Schachbund

Der Westdeutsche Schachbund als Vorläufer des Deutschen Schachbundes

Im Zusammenhang einer Betrachtung zur 125 jährigen Geschichte des Deutschen Schachbundes, der 1877 in Leipzig gegründet wurde, wird der Blick des Bearbeiters zwangsläufig auf den im September 1862 in Düsseldorf gegründeten Westdeutschen Schachbund, der als Vorläufer des organisierten Schachs in Deutschland angesehen werden kann, gelenkt. Es soll an dieser Stelle deshalb die Geschichte des Westdeutschen Schachbundes in einem Zeitraum von 16 Jahren von der Vorphase seiner Gründung im Jahre 1861 bis in die Zeit der Gründung des Deutschen Schachbundes im Jahre 1877 dargelegt werden. Zwar bestand der Westdeutsche Schachbund als Regionalorganisation im Deutschen Schachbund auch nach der Gründung des DSB weiter, doch kann diese Zeit einer anderweitigen Bearbeitung vorbehalten bleiben, zumal mit dem XIII. Kongress des Westdeutschen Schachbundes 1880 in Braunschweig die glanzvolle Phase des Bundes bedingt durch die in Deutschland einsetzende wirtschaftliche Rezession einen gewissen Abschluß fand.

Die Gründung eines Westdeutschen Schachbundes lag sozusagen „in der Luft“ als Georg Schnitzler, Düsseldorf, und Otto Wülfing, Elberfeld, 1861 in einem persönlichen Gespräch, die regelmäßige Zusammenkunft rheinischer Schachspieler erörterten. Als Ergebnis dieses Gespräches erfolgte seitens des Vorstandes des Elberfelder Schachclubs, Alfred Schlieper, mit Schreiben vom 23. August 1861 die Einladung, am „Sonntag, den 22. September dieses Jahres eine Zusammenkunft zu halten, um neben einzelnen Schachkämpfen das Project einer jährlich abzuhaltenen Versammlung der Schachspieler Rheinlands und Westphalens zu berathen. Zum Versammlungsort ist Düsseldorf festgesetzt worden … .“. Die Versammlung, die als der erste Deutsche Schachkongress bezeichnet werden kann, wurde hauptsächlich von Elberfelder und Düsseldorfer Schachspielern besucht. Die Düsseldorfer waren sozusagen zu Hause, während die Wuppertaler infolge der guten Eisenbahndirektverbindung nach Düsseldorf bis spät in den Abend noch die Heimreise antreten konnten. Der einst stärkste Düsseldorfer Schachspieler, der achtzigjährige Metzgermeister Frank, der sich rühmte gegen Marschall Vorwärts, Blücher, Schach gespielt zu haben, war anwesend. Aus Cöln waren nur der Musiklehrer Kufferath sowie die damals gerade erst 18 Jahre alten Kohtz und Kockelkorn dabei, während aus Crefeld ebenfalls nur einige wenige Schachspieler anwesend waren. P. Seelhoff aus Mülheim/Ruhr, Oberst Hanneken aus Wesel vom Niederrhein und Dr. Albert Lange aus Duisburg reisten mit einem Linienschiff der Düsseldorfer Schiffahrtsgesellschaft an. Aus weiterer Ferne war nur Graf Vitzthum aus Dresden erschienen. Dies sollte sich in den Folgejahren ändern. Schliepers Antrag „am ersten Sonntag des Monats September alljährlich eine Schachversammlung aller Schachspieler Rheinlands und Westphalens abzuhalten“ wurde begeistert aufgenommen und so traf man sich im folgenden Jahr am 7. und 8. September 1862 erneut in Düsseldorf.

Diesmal war die Beteiligung besser, denn um die hundert Schachfreunde besuchten die Veranstaltung und etwa 50 Personen nahmen an dem veranstalteten Festmahl teil. Auch ein Problemturnier wurde erstmals ausgerichtet, zu dem Graf Arnold Pongracz aus Presburg eine eigene Komposition sendete. Tassilo von Heydebrand und der Lasa, damals in Weimar als Preussischer Gesandter tätig, stellte dem Kongress eine erstmals von Chapais aufgeworfene Endspielfrage, König und zwei Springer gegen König und Bauer, als Preisfrage vor. Der 31 jährige Chefredakteur der Schachzeitung, Max Lange, wurde beauftragt, ein Jahrbuch zu erstellen und zur Veröffentlichung zu bringen. Lange entledigte sich dieser Aufgabe mit Bravour und das Jahrbuch des Westdeutschen Schachbundes 1862, das uns so vortrefflich von den nunmehr 140 Jahre zurückliegenden Ereignissen berichtet, gehört in unserer Zeit ebenso wie das 1863 erschienene Jahrbuch des Westdeutschen Schachbundes 1863 zu den gesuchtesten Raritäten der Schachliteratur.

Es ist kein Zufall, daß gerade Max Lange (1832-1899) zum intellektuellen Mentor der aufstrebenden Schachvereinigung wurde. Lange, der ein Doppelstudium in Philosophie und den Rechtswissenschaften absolviert hatte und eine beachtliche schachliche Spielstärke aufwies, war wie kein anderer intellektuell in der Lage, dem regen Treffen rheinischer Schachfreunde, die sich zunächst aus purem „Associationstriebe“ und Freude am Schach zu größeren „Congressen“ vereinigten, eine allgemeingesellschaftliche Bedeutung und Sinnhaftigkeit zuzuschreiben und die Bemühungen der Schachfreunde in einen allgemeinen soziokulturellen Kontext zu stellen.

Schon früh begann Lange sich mit den Auswirkungen einer institutionellen Ausgestaltung der regelmäßig stattfindenden Schachtreffen zu beschäftigen und versuchte darüber hinaus institutionelle Rahmenbedingungen für einen allgemeinen Deutschen Schachbund, dessen Vorläufer er in regionalen Schachvereinigungen wie dem Westdeutschen Schachbunde gegeben sah, zu liefern. Er war Realist und keineswegs purer Romantiker, wenn er formulierte „Darf auch ein durchgreifender Anschluss aller bedeutenden Schachkräfte und Schachvereine Deutschlands an den neugeschaffenen Schachbund, welcher im Westen unseres Vaterlandes sein Hauptquartier aufgeschlagen hat, kaum erwartet werden, so liegt doch die Hoffnung nahe, dass das gegebene Beispiel zur Nachahmung anregen und vielleicht zur gruppenweisen Vereinigung der Schachfreunde in den verschiedenen Theilen unseres Vaterlandes führen werde“. Beispielhaft sei an dieser Stelle auch seine Arbeit Britische Schachassociation in den von ihm herausgegebenen Sonntags-Blättern für Schachfreunde angeführt.

Anläßlich des zweiten Kongresses zeigte Louis Paulsen aus Nassengrund seine großen Fähigkeiten zum Blindspiel, indem er gleichzeitig gegen zehn Gegner blind spielte. Es war dies die erste Blindlingsproduktion, die Paulsen in Deutschland vor einem größeren Publikum darbot. Paulsen eröffnete sämtliche Partien mit 1. e4 und beendete die zehn Partien gegen eine respektable Gegnerschaft, unter der sich auch der junge Johannes Kohtz aus Köln befand, mit einem Resultat von sechs Siegen und vier Remisen nach zwölf Stunden Kampf. Die Blindlingsproduktion erregte mächtiges Aufsehen und war sehr werbewirksam, weshalb diese Art von Blindlingsproduktion zur regelmäßigen Einrichtung der folgenden Kongresse werden sollte. Im durchgeführten Hauptturnier errang Max Lange den ersten Preis.

Lange war es auch, der gemeinsam mit H. Wittgenstein eine Depesche an Tassilo von Heydebrand und der Lasa, Königlich Preussischer Gesandter in Weimar, formulierte, in der dieser als Großmeister der deutschen Schachgemeinde bezeichnet wird. Unseres Wissens der erste Gebrauch des Wortes Großmeister im Schach, wobei die Entlehnung des Wortes aus den Kreisen der Freimaurer nahe zu liegen scheint, zumal die Schachspieler damals durchaus als ein Kreis Verschworener anzusehen waren.

Der dritte Kongress des Westdeutschen Schachbundes fand wiederum in Düsseldorf statt. Als auswärtige Besucher des Kongresses sind neben den Paulsen-Brüdern Max Lange, der erneut den ersten Preis im Hauptturnier errang und erstmals auch Victor Knorre aus Berlin zu erwähnen. Im Problemturnier erhielt Johann Berger aus Graz den ersten Preis und Baron von Guretzky-Cornitz, Berlin, erhielt für die Bearbeitung des Chapais’schen Endspiels einen Preis. Es entspann sich eine lange und ausführliche Diskussion um die Wahl des künftigen Turnierortes wobei die Tatsache, daß Düsseldorf mit der Eisenbahn von vielen Richtungen aus gut erreichbar war, den Ausschlag dafür gegeben haben dürfte, daß auch der vierte Kongress 1864 in Düsseldorf ausgerichtet wurde. Dieser sah wiederum Max Lange als Sieger des Hauptturniers. Johann Berger, Graz, und Johannes Minckwitz, Leipzig, errangen die ersten Preise im Problemturnier.

Der fünfte Kongress fand Ende August 1865 erstmals nicht in Düsseldorf sondern in Elberfeld statt und G. R. Neumann, der Redakteur der 1864 gegründeten Neuen Berliner Schachzeitung, gewann das Meisterturnier. Die Beteiligung an dem Kongress hatte über die Jahre stetig zugenommen, so daß ab 1865 zwei Hauptturniere veranstaltet werden konnten. Das erste wurde Meister- bzw. Fremdenturnier später allgemeines Hauptturnier, während das zweite als rheinisches Hauptturnier bezeichnet wurde. Wieder sorgte Louis Paulsen mit einer Blindlingsproduktion gegen zehn starke Spieler für allgemeines Aufsehen. Im Jahr 1866 fand wegen des Deutsch-Österreichischen Krieges, in dem es vordergründig um Schleswig-Holstein, in Wahrheit jedoch um die Klärung der Deutschen Frage ging, kein Kongress statt, jedoch veranstalteten im Oktober 1866 Elberfelder und Barmer Schachfreunde in Unterbarmen ein als Wuppertaler Schachkränzchen in die Annalen eingegangene Veranstaltung, die überwiegend lokalen Charakter hatte.

So fand nach dieser kriegsbedingten Pause der sechste Kongress 1867 erstmals in Köln statt. Eduard Hammacher, der Präsident der Kölner Schachfreunde, leitete die Versammlungen in Köln im Domhotel und Gertrudenhof. Er konnte aufgrund der finanziellen Hilfe zahlreicher Gönner in Köln dem Kongreß einen weitaus größeren Rahmen als den früheren Kongressen geben. Max Lange fehlte erstmals wegen beruflicher Pflichten, sendete jedoch einen telegraphischen Festgruß, den die Festversammlung dankbar erwiderte. Auch sendeten Anderssen aus Breslau und von der Lasa aus Kopenhagen telegraphische Grüße. Wieder sorgte Louis Paulsen mit seiner nun schon Tradition gewordenen Blindlingsproduktion gegen zehn Spieler für werbeträchtiges Aufsehen, während sein Bruder Wilfried Paulsen das Fremdenturnier gewann. Etwa 80 Teilnehmer nahmen an der Festtafel im Gertrudenhof teil. Es war ein glänzender rheinischer Kongress mit zahlreichen Teilnehmern aus Aachen, Köln, Elberfeld, Barmen, Crefeld, Düsseldorf, Lennep, Ruhrort, Bonn, Eschweiler, Siegen und Schwelm. Zum Vorstand des Westdeutschen Schachbundes gehörten im Jahre 1867 Adolf Carstanjen, Eduard Hammacher, Karl Kockelkorn und Johannes Kohtz in Köln, Julius Asbeck jun. in Barmen, F. A. Hipp in Crefeld, Max Lange in Leipzig, R. Lichtenscheidt in Crefeld, G. R. Neumann in Berlin, L. Posse, Alfred Schlieper und A. Wolff in Elberfeld und Georg Schnitzler in Düsseldorf.

Der siebte Kongress des Westdeutschen Schachbundes begann am Samstag Nachmittag, dem 1. August 1868, in den Räumen der Gesellschaft Erholung in Aachen mit der Begrüßung der Kongressbesucher durch den ersten Vorsitzenden des Aachener Schachvereins E. Scheibler. Unter den Anwesenden waren die eingeladenen Meister Anderssen, der bereits seit dem 30. Juli in Köln bei seinem Freund Carstanjen weilte, Max Lange, die Gebrüder Paulsen, Emil Schallopp und der Redakteur der Neuen Berliner Schachzeitung, Johannes Zukertort. Es zeugt von einem gesunden Selbstbewusstsein des Vorstandes des Westdeutschen Schachbundes, daß die ausländischen Meister Paul Morphy, Arnous de Rivière und Howard Staunton ebenfalls eine Einladung erhalten hatten. Der Kongress war sehr gut besucht, so daß außer den zwei Hauptturnieren (Fremden- oder Meisterturnier sowie Rheinisches Turnier) noch zwei parallel verlaufende Nebenturniere veranstaltet werden konnten. Anderssen hob in einer Rede hervor, „dass er bereits vielen Schach-Congressen beigewohnt habe, dass ihnen aber die Gemüthlichkeit gefehlt, durch die nur ein deutscher Schach-Congress sich auszeichnen könne“.

Der achte Kongress des Westdeutschen Schachbundes fand vom 6. bis 9. August 1869 in Barmen statt. Wiederum war eine erlesene Meisterschar bestehend aus Adolf Anderssen, Breslau, Wilfrid Paulsen, Nassengrund, Johannes Minckwitz, Leipzig, Johannes Zukertort, Berlin, und Emil Schallopp, Anclam anwesend. Zukertort, gemeinsam mit Anderssen (A und Z) Redakteur der Neuen Berliner Schachzeitung hielt einen geistreichen Toast auf das rheinische Schach-ABC Aachen, Barmen, Cöln, Düsseldorf und Elberfeld. Sieger im Meisterturnier wurde Anderssen.

Es soll an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben, daß sämtliche Kongresse des Westdeutschen Schachbundes sich durch ein ausgesprochen geselliges Miteinander der Schachfreunde auszeichneten. Es wurde nicht gespart an Festtafeln, Festreden, Toasten und Schachbällen. Dabei fällt insbesondere bei den Kongressen der späten sechziger Jahre die außerordentliche Nähe berühmter und bekannter, sehr spielstarker Schachmeister zu dem allgemeinen Schachpublikum auf. Anderssen beispielsweise ließ es sich auf dem Schachball in Barmen 1869 nicht nehmen, die Polonaise anzuführen.

Und auch der als äußerst bescheiden, ja schüchtern geltende Louis Paulsen hielt sich gerne im Kreise interessierter Schachfreunde auf. Schallopp, Minckwitz, Lange und Zukertort waren sich nicht zu schade, freie Partien mit den angereisten Schachfreunden zu spielen. Zwar war das allgemeine Niveau niedriger und der schachpraktische Abstand zwischen starken und schwachen Schachspielern mag nicht so groß wie heute gewesen sein, doch mag man geneigt sein, diesen Teil der Schachgeschichte den heutigen Großmeistern und Internationalen Meistern besonders ans Herz zu legen.

Infolge des Deutsch-Französischen Krieges fand 1870 kein Kongress statt, so daß der neunte Kongress des Westdeutschen Schachbundes erst wieder 1871 in Crefeld zur Austragung kam. Minckwitz (1843-1901), seit 1865 Redakteur der Schachzeitung, war zum großen Propagator der Schachbundidee geworden.

Er schrieb im Turnierbuch: „Wenn diese neuen Schachassociationen dieselbe Lebensfähigkeit und Ausdauer bethätigen, wie der westdeutsche Schachbund, wenn es ferner dem Eifer mitteldeutscher Schachfreunde glückt, einen mitteldeutschen Schachbund zu gründen, dann hat der westdeutsche Schachbund seinen Zweck herrlich erfüllt, dann kann man daran denken, ihn aufgehen zu lassen in einem grossen Ganzen, ihn zu vereinigen mit den genannten übrigen Associationen zur Bildung eines allgemeinen Deutschen Schachbundes“.

Crefeld wies zahlreiche und wichtige Teilnehmer aus Mitteldeutschland auf, wie Pitschel aus Altenburg und Göring aus Gotha, so daß der Westdeutsche Schachbund in Crefeld erneut seine Signalwirkung auf die Schachbewegung in Deutschland nicht verfehlt haben dürfte. Dennoch sollte Crefeld 1871 für lange Zeit, nämlich bis 1876 der vorerst letzte Kongress des Westdeutschen Schachbundes bleiben. Hierfür waren wohl in erster Linie wirtschaftliche Schwierigkeiten die Ursache und so verwundert es nicht, daß auch der zuerst von Johannes Minckwitz unter dem Pseudonym Labourdonneltzky im Aprilheft der Deutschen Schachzeitung vorgetragene Versuch, eine Aktiengesellschaft zur Aufbringung der zur Gründung eines Allgemeinen Deutschen Schachbundes notwendigen Geldmittel zu gründen, völlig in’s Leere ging und keine weitere Resonanz fand.

1876 fand in Düsseldorf nach einer fünfjährigen Pause der zehnte Kongress des Westdeutschen Schachbundes statt, der sich jedoch hinsichtlich seiner Größe nicht mehr mit seinen Vorgängern messen konnte. Immerhin, so vermerkt der Chronist Minckwitz im Kongressbuch, verdient die Veranstaltung alleine schon deshalb in die Annalen des rheinischen Schachbundes aufgenommen zu werden, als es sich bei der Zehnjahresveranstaltung sozusagen um eine Wiederauferstehungsfeier handelte, in der wiederum die Stadt Düsseldorf, wie zur Gründerzeit, eine besondere Rolle spielte.

Die darauf folgenden 11. und 12. Kongresse des Westdeutschen Schachbundes in Frankfurt/M. und Braunschweig, gehören nicht mehr zu den Vorläufern der Kongresse des Deutschen Schachbundes, weshalb sie hier nur kurze Erwähnung finden. Immerhin war mit den Kongressorten Frankfurt am Main und Braunschweig auch geografisch die Bedeutung der überregionalen Schachversammlungen des Westdeutschen Schachbundes, die letztlich auch die politischen Verhältnisse in Deutschland widerspiegelten, deutlich geworden. Eine neue Generation von Schachspielern begann in Deutschland den Ton anzugeben. Die Zeit der gemütlichen Schachtreffen war vorbei. Fritz Riemann (1859-1932) aus Berlin später Erfurt errang in Braunschweig 1880 den zweiten Preis im Meisterturnier. Er sollte noch für mehrere Jahrzehnte gemeinsam mit seinem Freund Alexander Fritz (1857-1932) die Deutschen Schachkongresse besuchen.

In der Synopsis des bisher Dargelegten erscheinen im Hinblick auf die Geschichte des Westdeutschen Schachbundes insbesondere zwei Tatsachen von Bedeutung. Zunächst ist die anheimelnde Atmosphäre des im Gebiet von Rhein, Ruhr und Wupper nicht zuletzt wegen guter Eisenbahnverbindungen ermöglichten regen Schachlebens hervorzuheben. Dabei beförderte diese Atmosphäre im Zusammenspiel mit einem gutmütigen Nationalismus romantischer Prägung die Entwicklung des Schachspiels ganz außerordentlich. Zum anderen kann die Bedeutung des damaligen Herausgebers der Schachzeitung, Dr. Dr. Max Lange, für die institutionelle Entwicklung des Westdeutschen Schachbundes nicht hoch genug eingeschätzt werden. Max Lange erzielte seine erste, maßgebliche Wirkung in der Förderung des organisierten Schachs in Deutschland hier an Rhein, Ruhr und Wupper! Seine große Konzeption, eine Vereinigung aller deutschen Schachspieler unter dem Dach eines Allgemeinen Deutschen Schachbundes herbeizuführen, sollte in der von ihm angedachten Form nicht gelingen. Dennoch waren seine Hilfe und seine Bemühungen sowohl in schachpraktischer als auch institutionell-organisatorischer Hinsicht von unschätzbarem Wert für die Entwicklung des Westdeutschen Schachbundes und damit auch des Deutschen Schachbundes.

Geschichte des Deutschen Schachbundes

(Fassung erstellt im Jahre 2002)

Einleitung

Die hier vorgelegte Arbeit zur Geschichte des Deutschen Schachbundes (nicht des Schachs in Deutschland) umfasst in Abweichung von dem 125 Jahre (1877-2002) ausmachenden Jubiläumszeitraum lediglich eine Zeitspanne von etwa 85 Jahren und versucht diejenigen Vorgänge darzustellen, welche zwischen 1861, dem Jahr der Gründung des Westdeutschen Schachbundes, und 1945, in dem für eine kurze Zeit in Deutschland sämtliche Schachaktivitäten darniederlagen und auch der DSB zu Bestehen aufhörte, stattfanden. Diese Beschränkung musste einerseits im Hinblick auf die Komplexität des Gegenstandes erfolgen, denn schon die Vorgänge um den Großdeutschen Schachbund in den Jahren 1933 bis 1945 können nur schlaglichtartig beleuchtet werden, weil eine wirklich erschöpfende Bearbeitung des Schachs in der Zeit des Nationalsozialismus, auf die der Autor hätte zugreifen können, auch weiterhin noch aussteht. Die Vorgänge nach 1945, die durch den zweiten Wiederaufbau des Deutschen Schachbundes (nach dem 1. Wiederaufbau 1918) in der Bundesrepublik Deutschland, den Aufbau des Deutschen Schachverbandes in der Deutschen Demokratischen Republik und schließlich durch die Vereinigung von DSB und DSV am 29. September 1990 in Leipzig charakterisiert sind, können nicht hinreichend dargestellt werden. Hierfür sind andererseits auch Raum- und Zeitgründe verantwortlich gewesen, zumal dem Autor sowohl eine bloß chronologische Aufzählung von Daten zur DSB-Geschichte als auch eine bloß hagiographische Abhandlung nicht sinnvoll erschien. Der Interessierte mag hier an die vorzüglichen Chroniken der Landesverbände verwiesen werden, von denen beispielhaft die von Diel (Bayern), Herter (Württemberg) und Willeke (Niedersachsen), von dem auch eine posthum veröffentlichte, lesenswerte Abhandlung über das Arbeiterschach in Deutschland vorliegt, zu nennen sind.

  1. Die Zeit des Aufbaus bis zur Gründung des DSB (1861-1877)

Das Schachspiel stellt ein in die allgemeine Kulturentwicklung eingebettete Tätigkeit des Menschen dar und sie folgt deshalb den allgemeinen Linien der Kulturgeschichte. Schach wurde in Deutschland mit Sicherheit bereits im Mittelalter gespielt. Heinrich von Freiberg beispielsweise kannte das Schachspiel und seine Regeln. Er lebte als Hofdichter im Dienste von hohen böhmischen Adligen etwa in den Jahren 1285-1290 und schrieb eine Fortsetzung von Gottfrieds von Straßburg unvollendet gebliebenen Tristan, in der eine Schachstelle (Verse 4144 ff.) mit dem wohl ältesten verbürgten, wenn auch literarisch erhöhten Kreuzschach vorkommt. Auch im Ruodlieb, einem nach dem Titelhelden benannten mittellateinischen Epos, das im letzten Drittel des 11. Jahrhunderts im Kloster Tegernsee verfasst wurde, wird das Schachspiel erwähnt.

Organisiertes Schach jedoch finden wir in Deutschland erst mit dem Beginn des 19. Jahrhunderts als in den großen deutschen Städten Berlin, Breslau und Hamburg Schachvereine gegründet wurden. Im Zuge der allgemeinen soziokulturellen, technischen und ökonomischen Entwicklung kam es in Deutschland unter gelegentlicher Überbetonung eines gutmütigen Nationalismus romantischer Prägung in den Jahren 1860 bis 1880 zur Gründung von regionalen Schach-Organisationen, die den Weg für die Gründung eines Allgemeinen Deutschen Schachbundes ebneten. Maßgeblichen Einfluß hatte dabei Dr. Dr. Max Lange (1832-1899), der schon frühzeitig publizistisch und auch praktisch-organisatorisch auf die Errichtung eines Deutschen Schachbundes hingearbeitet und die allgemeinen Zeichen der Zeit erkannt hatte. In einer Arbeit über die britische Schachassoziationen schreibt er: „In den Associationen oder grösseren Vereinigungen, welche sich unter den Genossen derselben Arbeit oder Beschäftigung über lokale Grenzen hinaus erstrecken, liegt heutzutage der Schwerpunkt fast aller gesellschaftlichen Entwicklung“.

Lange schildert im weiteren die Entwicklung der Schachassoziationen in England, deren erstes regionales Treffen in der Yorkshire Chess Association bereits 1841 und deren erste landesweite Versammlung als British Chess Association am 5. August 1857 erfolgt war, und zieht sie als Vorbild für Deutschland heran.

Nicht zuletzt dank Langes unermüdlicher Aktivitäten kam es in Deutschland in den Jahren 1861 bis 1877 zu mehreren Gründungen regionaler Schachvereinigungen. Bereits 1861 war die Gründung des Westdeutschen Schachbundes in Düsseldorf erfolgt. In Hamburg wurde zu Pfingsten 1868 unter Anwesenheit von Lange der 1. Norddeutsche Schachkongress veranstaltet und Lange in den Vorstand des neu gegründeten Norddeutschen Schachbundes gewählt. Die Veranstaltungen fanden rasch die Unterstützung namhafter Schachmeister von denen insbesondere die Paulsen–Brüder, Louis (1833-1891) und Wilfried (1828-1901), sowie Adolf Anderssen (1818-1879) zu nennen sind. Sie nahmen auch am zweiten Congress des Norddeutschen Schachbundes in Hamburg 1869 teil.

Der 1. Congress des Mitteldeutschen Schachbundes fand vom 27. bis 31. Dezember 1871 in Leipzig statt. Initiatoren waren Schachfreunde aus Leipzig und Altenburg. Im Veranstaltercomité waren insbesondere Vertreter des traditionsreichen Leipziger Schachvereins Augustea wie Hofrat Rudolf v. Gottschall, Hermann Haugk, Albert Hartmann, R. Schurig, Johannes Minckwitz, Lulius Lewy, C. Schwede, aber auch C. Pitschel (Altenburg), Ed. Dornstein (Nordhausen), Paul Heppe (Buchholz) und Dr. Hanns von Weissenbach (Dresden). Auch hier war Anderssen unter den Teilnehmern sowie Samuel Mieses aus Bad Ems (Onkel von Jacques), Göring, Pitschel, der Problemkomponist Arthur Gehlert und andere. Bemerkenswert in vielerlei Hinsicht ist hier das Fehlen von Lange und Paulsen, deren Fehlen bedauert wird. Als Zweck des Kongresses wurde ausdrücklich genannt: „Gründung eines Allgemeinen Deutschen Schachbundes“. Die Gründer des mitteldeutschen Schachbundes in Leipzig und hier insbesondere die Vertreter des Leipziger Schachvereins Augustea um den Universitätsprofessor Carl Göring (1841-1879), den Hofrat Rudolf von Gottschall (1823-1909) und den Kassierer Hermann Zwanzig (1837-1894) hatten es zu ihrem 1873 stattfindenden 25 jährigen Vereinsjubiläum nicht fertig gebracht, den ursprünglich geplanten zweiten mitteldeutschen Kongress zu veranstalten. Es dauerte weitere fünf Jahre bis im Juli 1876 der zweite Kongress des Mitteldeutschen Schachbundes stattfand und erst auf diesem zweiten Kongress kam es auch formal zur Gründung eines Mitteldeutschen Schachbundes.

Die Süddeutschen Schachfreunde taten sich noch schwerer. Zwar wurde 1874 ein Süddeutscher Schachbund gegründet, dessen Vorsitzende Meusch und Schwarzschild aus Frankfurt/M. und Mitglieder Schachfreunde aus Mainz und Mannheim waren, doch konnte er keine größere Bedeutung entwickeln.

Zur Gründung eines Ostdeutschen Schachbundes kam es gar erst nach 1877 als nach einem Aufruf von G. Schaumburg in Königsberg i. Preußen in der Zeit vom 6. Juli bis 9. Juli 1878 der I. Ostdeutsche „Schach-Congress“ stattfand. Die große Entfernung wurde als „Hinderniss einer allgemeinen Betheiligung des östlichen Deutschlands“ am allgemeinen Schachleben in Deutschland bezeichnet. Johannes Kohtz (1843-1918) lebte zu dieser Zeit in Königsberg und dürfte sicherlich zur Gründung mit beigetragen haben. Die Teilnehmer kamen aus den Städten Graudenz, Bromberg, Bartenstein, Pakamohnen bei Tilsit und Memel. Unter ihnen war auch der später als Theoretiker bekannter gewordene Oskar Cordel (1843-1913).

Die regionalen Schachtreffen zeichneten sich insgesamt durch eine ausgesprochen gemütliche und gesellige Atmosphäre aus. Anderssen hob beispielsweise in einer Rede hervor, „dass er bereits vielen Schach-Congressen beigewohnt habe, dass ihnen aber die Gemüthlichkeit gefehlt, durch die nur ein deutscher Schach-Congress sich auszeichnen könne“. Die Versammlungen hatten auch das Ziel, das schachliche Können auf breiter, allgemeiner Basis zu stärken und es wurde darüber hinaus die Notwendigkeit der Ausformung eines festen Regelwerks deutlich. So begann die Partie Max Lange gegen Wilfried Paulsen (1:0) am 4. August 1868 um 10.00 Uhr morgens und endete erst nach mehr als 17 stündigem ununterbrochenen Kampf um 2.00 Uhr nachts. Die stärksten Meister der Zeit wie Paulsen, Anderssen und Lange unterstützten die Bestrebungen der Schachspieler nach Kräften durch ihre Teilnahme an den Kongressen, so daß die von den Schachbünden organisierten Schachveranstaltungen eine auf die Entwicklung des Schachs in Deutschland außerordentlich positive Wirkung ausüben konnten.

Dennoch sollte die erstmals von Lange entwickelte Konzeption, eine Vereinigung aller deutschen Schachspieler unter dem Dach eines Allgemeinen Deutschen Schachbundes durch die Zusammenfassung mehrerer regionaler Schachbünde herbeizuführen, nicht zur Realisierung gelangen. Und auch der von Johannes Minckwitz 1872 unter dem Pseudonym Labourdonneltzky im Aprilheft der Deutschen Schachzeitung vorgetragene Versuch, der Schachbundidee durch die Gründung einer Aktiengesellschaft zur Aufbringung der zur Gründung eines Allgemeinen Deutschen Schachbundes notwendigen Geldmittel wieder aufzuhelfen, fand keine weitere Resonanz.

Die Ursache dafür ist heute, im Jahre 2002, nur schwer auszumachen. Es fehlte sicher nicht an der notwendigen publizistischen Unterstützung, an der zunächst in der Schachzeitung durch Max Lange und später in der Deutschen Schachzeitung durch Johannes Minckwitz

kein Mangel war und es fehlte auch nicht an einzelnen tatkräftigen Persönlichkeiten, die für das Schach bereit waren Geld, Freizeit und Ideen zu opfern, und auch nicht an starken bekannten Meistern, wie Anderssen, Paulsen und Lange. Vielmehr fehlte es an der alle begeisternden, die unterschiedlichen Charaktere der Schachspieler vereinigenden Idee, die dazu hätte führen können, daß die Trägheit der Schachfreunde in ihrer Gesamtheit hätte überwunden werden können, denn an dem Scheitern der Schachbund-Idee waren die Schachfreunde selbst nicht ganz unschuldig und es lag sicher auch, wie ein unbekannter Autor launig formulierte „an der Flauheit (sic!) der näheren und entfernteren, grösseren und kleineren Schachvereine“. Eine weitere Ursache dürfte die damals noch nicht gut entwickelte Verkehrssituation im Deutschen Reich gewesen sein, das der industriellen Entwicklung insbesondere von England deutlich hinterherhinkte. Erst in den späten 1870er Jahren hatten alle größeren deutschen Städte einen Eisenbahnanschluß und die größte Dichte im Schienennetz der Deutschen Reichsbahn war gar erst 1914 erreicht. So sollte es bis 1876 dauern, daß in Leipzig die Idee eines Deutschen Schachbundes erneut auf die schachpolitische Tagesordnung gebracht wurde.

  1. Die Gründung des DSB im Jahre 1877

Vom 9. bis 13. Juli 1876 fand in Leipzig der zweite mitteldeutsche Kongress statt. Es war keineswegs vorhersehbar, daß von diesem Kongress die Anregung zur Gründung eines Deutschen Schachbundes erfolgreich ausgehen sollte. Ganz im Gegenteil verdeutlicht die Darstellung eines Autors W. in der Deutschen Schachzeitung von 1876, die wegen ihrer plastischen Deutlichkeit an dieser Stelle wörtlich wiedergegeben werden soll, daß hinsichtlich der Gründung eines Schachbundes eher Pessimismus angesagt war. W. schreibt: „Als nun die ideelle Schöpfung des Congresses einmal vollzogen war, da ging die Leitung der gesammten materiellen Angelegenheiten in die Hände des dermaligen Cassirers der ‚Augustea’, des Herrn H. Zwanzig über, dessen rührige, energische Weise für die thatsächliche Abhaltung und Durchführung des Congresses von höchster Erspriesslichkeit war. Würden alle ‚Bundesmitglieder’ diesen praktischen Eifer bewähren, solcher Mühe und Arbeitslast sich unterziehen, solche wirkliche Aufopferung an den Tag legen, wie würden die ‚mitteldeutschen’ Schachcongresse der Zukunft floriren!

Doch gehen wir zu dem eben dahingerauschten Congresse selbst über. Aus der Erde gestampft wie er plötzlich war, schienen die Auspicien desselben gleichwohl sehr günstige zu sein und Berichterstatter muss aller Skeptik ungeachtet, die er dem Unternehmen von vornherein entgegenbrachte, gestehen, dass ihm dieser Congress eine brillante Erscheinung zu werden versprach. Freilich dass ich es nur ebenfalls gestehe, die Enttäuschung hinterdrein war mir eine schmerzliche! Denn man höre und staune: Dresden hatte sich in pecuniärer Beziehung in sehr gentiler Weise betheiligt, Cassel, mit der imponirenden Zahl von angeblich 102 Mitgliedern, setzte sich mit dem Leipziger Comité behufs Constituirung eines grossen allgemeinen deutschen Schachbundes in Verbindung, selbst das südlich gelegene, aber, der ungemeinen Dehnbarkeit des Begriffes ‚Mitteldeutschland’ zufolge, zur Noth noch darunter zu befassende Nürnberg hatte sich noch angeschlossen – nun, was will man mehr von einem mitteldeutschen Schachbund mit Pleiss-Athen an der Spitze?

Jedoch – weder am Vorabende – so zu sagen am heiligen Abend des Schachcongressfestes – am 9. Juli, noch am 10., noch an einem der folgenden Tage bereitete uns Dresden die Freude, auch nur einen seiner starken Spieler nach Leipzig zu entsenden, während diesmal sogar ein Kleeblatt derselben gerüchtweise verheissen war; weder am 9. noch am 10., noch an einem der folgenden Tage bereitete uns Nürnberg, mit seinem ein halbes Hundert Köpfe zählenden Club dieselbe Freude, weder vom 9. bis zum 13. Juli endlich hatte Cassel etwas anderes gethan, als einen ‚Ueberbringer seiner Grüsse’ entsendet, welcher – ‚o Zartgefühl erröthe du für mich!’ – dem Leipziger Congresscomité sinnig anvertraute, dass der Casseler Schachclub vor jeder über das luftige Wort für die Vereinigung der ‚zersplitterten’ Schachvereine hinausreichende Unterstützung des Unternehmens als vor einer ‚Beleidigung’ zurückscheue …“. W. schreibt weiter: „Die Turniere waren zu Ende und am Abend des 12. Juli war programmässig ‚Berathung in Bundesangelegenheiten“ zu halten. Unter der Leitung des Präsidenten der ‚Augustea‘, des geh. Hofraths Rud. Gottschall, verschritt man zu derselben. Die sanft entschlummerte Bundesidee wurde wachgerüttelt. Von dem Casseler Delegirten wurde, wie schon erwähnt, für einen grossen deutschen Schachbund gesprochen. Leider enthielt er sich aller näheren Andeutungen darüber, wie das zu machen sei. Für uns geht aus dem Ganzen bei dieser Gelegenheit Verhandelten und Nichtverhandelten – das letztere überwog bedeutend – nur so viel hervor, dass Leipzig allein keinen ‚mitteldeutschen Schachbund’ repräsentiren kann. Wohl kann es, wenn es so opferwillig sein will, zu seinem Privatvergnügen dann und wann einen ‚Schachcongress’ veranstalten, derselbe hängt aber dann lediglich von jener Stimmung ab und die Stimmung gehört zu dem ‚mulierum variabile genus’. So lange daher die Schachvereine Mitteldeutschlands in absoluter Theilnahmslosigkeit verharren oder sich doch auf ein Minimum von Theilnahme beschränken, spräche man daher passender von einem Leipziger Schachcongresse, der auswärtigen Schachspielern die Theilnahme in generöser Weise gestattet . … Caissa besser’s!“

Das Bild, das uns W. von den damaligen Schachzuständen recht eindrucksvoll liefert, macht noch einmal deutlich, daß die Teilnahmslosigkeit der Schachfreunde und der Schachvereine ein Hauptgrund für die unzureichende Weiterentwicklung der Schachbundidee gewesen war. Gleichzeitig zeichnet der Bericht aber aus heutiger Sicht auch eine Lösungsmöglichkeit vor, indem der tatkräftige Kassierer Hermann Zwanzig nämlich die Vereine selbst ansprechen und durch persönliche Kontaktaufnahme zur Mitarbeit am Deutschen Schachbund gewinnen konnte.

Zunächst aber musste noch die alle einigende, alle begeisternde Idee hinzutreten, daß Zwanzig zum großen Macher des Deutschen Schachbundes werden konnte. Am 13. Juli 1876, also ein Tag nach der Preisverleihung und der programmgemäßen Beratung der oben geschilderten Bundesangelegenheiten, als die „Champagnerpropfen lustig gegen die Decke zu knallen begannen“ schlug der gerade erst 35 Jahre alte Carl Göring für das nächste Jahr eine Anderssen-Feier vor. Wieder sei an dieser Stelle aus W.’s so anschaulichen Bericht zitiert: „dass … unter dem die Geister erlösenden Einflusse feurigen Rebenblutes eine glänzende Rede die andere, ein schwungvoller Toast den andern drängte, nachdem das Signal hierzu durch Gottschalls sonore Initiative gegeben war, dass Anderssen und M. Lange nicht zurückblieben, sondern sich auch als Meister der Kunst des Wortes bewährten? Es versteht sich ja Alles von selbst! Den Vogel schoss aber zuletzt Dr. Göring, der philosophische Schachmeister, ab, indem er, perorirend und toastirend, mit seiner Idee hervortrat, die, seltsam, wie sie im ersten Augenblicke an das Ohr der Festversammlung tönte, doch alsbald zündend in die Gemüther fiel und begeisterten Wiederhall fand. Er schlug nämlich vor – den ‚Altmeister’ im nächsten Jahre eine Partie (gleichsam eine Haupt- und Staatspartie) in Gestalt eines Jubiläumspreises gewinnen zu lassen, d.h. kurz heraus gesagt, zu Anderssens in das Jahr 1877 fallendem fünfzigjährigen Schachjubiläum einen Jubelcongress zu veranstalten.“

Und geradezu prophetisch muten die weiteren Worte von W. an, wenn er schreibt: „Wenn diese Gelegenheit nicht den ‚mitteldeutschen Schachbund’ galvanisch ins Leben zaubert, so ist er gewiss für alle Zukunft lebensunfähig. Doch was! Selbst zur Entstehung eines allgemeinen grossen ‚deutschen Schachbundes’ von Reichswegen böte sich hier die schönste Gelegenheit!“.

Die zündende Idee Görings, 1877 eine Anderssenfeier zu dessen 50jährigen Schachjubiläum zu veranstalten, sollte zur Geburtsstunde des Deutschen Schachbundes werden. Die allseits beliebte Persönlichkeit Anderssens, der, so weit aus den Quellen ableitbar ist, so gut wie keine Feinde gehabt hat, gepaart mit dessen Popularität im ganzen Land als Sieger des Londoner Turniers 1851, konnte die deutschen Schachfreunde im wilhelminischen Deutschen Reich von 1877 vereinigen und der Schachbundidee zum Durchbruch verhelfen. Dabei beförderte ein gutmütiger Nationalismus romantischer Prägung die Anfangsentwicklung des Schachbundes ganz außerordentlich. Es soll an dieser Stelle der Hinweis erfolgen, daß aus keiner der heute allgemein zugänglichen Quellen auch nur die Andeutung eines wie auch immer gearteten Antisemitismus ableitbar ist. Es scheint im DSB zumindest vor 1900 keine antisemitischen Ressentiments von hinreichender Wirkungsmächtigkeit, daß sie Eingang in die Berichterstattung gefunden hätten, gegeben zu haben. Wohl sind nationale, der Zeit entsprechende Töne zu hören gewesen, antisemitische Äußerungen aber sind im Ganzen nicht bekannt geworden.

Die Anderssen-Feier fand in Leipzig vom 15. bis 18. Juli 1877 statt. Es erfolgte unter anderem die Überreichung einer kunstvoll gefertigten Anderssen-Säule an den Jubilar, die dessen Erfolge auf dem Schachbrett verherrlichte und die später vom Dresdner Schachverein gekauft wurde. Die Säule bestand aus schwarzem Marmor und war von einem breiten Eichenlaubband aus Gold und Silber umwunden. Sie ruhte auf einem Sockel nebst terassenförmiger Basis aus Serpentinstein. Auf der Säule stand die silberne Figur der Caissa, als Attribut das Schachbrett haltend und mit der Rechten dem Meister einen goldenen Ehrenkranz bietend. Der Sockel trug auf der Vorderseite die Inschrift: „Dem deutschen Schachmeister Prof. Dr. Adolph Anderssen zum fünfzigjährigen Schachjubiläum. Seine Freunde und Verehrer“, auf der Rückseite aber ein Diagramm mit der Endstellung der Partie, mit der Anderssen 1851 seinen Sieg gegen den Engländer Howard Staunton entschied. Innerhalb einer um das Diagramm geschlungenen Girlande waren die Daten verschiedener Hauptsiege Anderssens angebracht (London 1851, London 1862, Baden-Baden 1870, Wien 1873, Leipzig 1871, Leipzig 1876).

Am 18. Juli ab 14.00 Uhr trafen sich etwa 50 Schachfreunde darunter Max Lange, Zukertort, Eduard Hammacher, Adolf Anderssen, Dr. Constantin Schwede, Dr. Rudolf Gottschall, Hermann Zwanzig und andere im Trianonsall des Schützenhauses zu Leipzig. Noch immer überwog die Skepsis bei dem kundigen Kenner der deutschen Schachszene, denn Schwede (1854-1917) schrieb in der Deutschen Schachzeitung: „Nach Aufhebung der Tafel wurde die Berathung behufs Stiftung des deutschen Schachbundes begonnen. Offen herausgesagt: sie nahm leider den gleichen Verlauf, wie frühere Versuche derselben Art. Die Mahnung Attinghausens: ‚Seid einig, einig, einig!’ hatte keinen Eingang in die Herzen der Schächer gefunden, und so kam es denn, dass gleich bei der ersten Frage ‚Soll die Ausdehnung des deutschen Schachbundes über die politischen Grenzen Deutschlands hinausgehen oder nicht?‘ die parlamentarische Ordnung nicht unbedenklich gestört wurde. Das Ende vom Lied war, daß ein ziemlich inopportuner Schlussantrag diese wichtige Vorfrage zu den Todten warf.

Die Beschlüsse beschränkten sich auf drei sehr allgemeine Paragraphen.

  1. Es wird ein deutscher Schachbund mit wechselndem Vorort gegründet.
  2. Nächster Vorort ist Leipzig, und wird Herrn H. Zwanzig (dessen bisherige aufopfernde Thätigkeit sich allgemeiner Anerkennung zu erfreuen hatte) die Leitung der Geschäfte übertragen.
  3. Alle 2 Jahre findet ein Congress des Bundes statt.

Hoffen wir, dass diesen Beschlüssen die Thatsache nachfolgt! Allzuviel Vertrauen darf man aber nach früheren Erfahrungen wohl nicht darauf setzen!“.

                                                                                                     Hermann Zwanzig, Festschrift 1927

Dennoch, der Anfang war gemacht und in der Folgezeit realisierte Hermann Zwanzig durch persönliche Kontaktaufnahme zunehmend die Vereinigung der deutschen Schachfreunde. Dabei kam ihm zustatten, daß er bereits im Vorfeld zur Organisation der Anderssen-Feier, nämlich im Jahre 1876, viele Vereine persönlich und schriftlich kontaktiert hatte, um sie zur Teilnahme an Anderssens Jubiläumsfeier in Leipzig zu bewegen. Zwanzig war von Beruf Kaufmann und handelte mit Spitzen. Seine kaufmännische Tätigkeit machten eine ausgiebige Reisetätigkeit notwendig und er nutzte diese Reisen, um die Schachvereine zum Beitritt und zur Mitarbeit im neu gegründeten DSB zu veranlassen. Zumindest zu Beginn seiner Tätigkeit für den DSB im Jahre 1878 muß Zwanzig jedoch noch an den von Max Lange vorgezeichneten Weg der Vereinigung lokaler Schachbünde geglaubt haben, denn auf sein Betreiben hin fand vom 23.-25 August 1878 in Altona der erste Nordalbingische Schachcongress statt, auf dem der Nordalbingische Schachbund gegründet wurde und der die norddeutschen Schachspieler für den DSB gewinnen sollte. Die Schachbünde waren aber, wie oben bereits ausgeführt, so wenig in sich selbst gefestigt, daß der Ansatz einer sukzessiven Vereinigung derselben, soviel muß Zwanzig im Sommer 1878 deutlich geworden sein, wenig erfolgversprechend gewesen wäre. Im Gegensatz zu Lange ging Zwanzig also den mühsamen Weg über die Rekrutierung der Vereine selbst. Noch im Oktober 1877 erstellte er ein Rundschreiben mit der Aufforderung dem DSB beizutreten, das er an die deutschen Schachvereine und Schachfreunde versendete. Im Oktober 1878 ließ er ein zweites Rundschreiben desselben Inhalts folgen und gab darüber hinaus Mitteilung über den Stand der Angelegenheit.

Am 1. Mai 1879 konnte das Kongresskomité, das den Kongress zu Leipzig 1879 vorbereitete, berichten, daß 59 Schachvereine dem Deutschen Schachbunde beigetreten waren. Sie sollen an dieser Stelle aus historischen Gründen aufgeführt werden: Aachen, Altenburg, Altona, Annaberg, Apolda, Aue im Erzgebirge, Augsburg, Bamberg, Barmen (Schachklub), Berlin (Schachgesellschaft), Berlin (Schachklub), Berlin (Akademischer Schachklub Berlin (Germania), Braunschweig, Bremen (Klub Morphy), Breslau, Bromberg, Cassel, Celle (Schachklub), Celle (Schachkränzchen), Coburg, Cöln a. Rh., Crefeld, Darmstadt, Dresden, Driesen, Eilenburg, Frankfurt a. M., Flensburg, Friedeberg N. M., Görlitz, Göttingen, HaIberstadt, Halle a. S., Hannover, Heide i. Holstein, Itzehoe, Landsberg a. Warthe, Leipzig (Augustea), Leipzig (Akademischer Schachklub), Leipzig (Cafe Francais), Liegnitz, Löberitz b. Halle, Lüneburg, Magdeburg (Schachgesellschaft), Münster, Nürnberg, Posen, Potsdam, Prenzlau, Säckingen i. Baden, Stettin, Trier, Tübingen (Akademischer Schachklub), Weimar, Wesselburen, Wriezen, Wurzen, Zabrze i. Oberschl.. Laut Mitteilung der Deutschen Schachzeitung traten am Kongress selbst noch mindestens drei weitere Vereine nämlich die Schachvereine aus Chemnitz, Fulda und Stolberg dem DSB bei, sodaß eine Gesamtzahl von 62 Gründer-Vereinen resultiert.

Ein Blick auf die Landkarte Deutschlands zeigt, daß der Deutsche Schachbund zum Zeitpunkt seiner Gründung in allen Reichsgebieten zumindest mit einem oder einigen wenigen Vereinen repräsentiert war. Aus Sachsen traten neun Vereine dem DSB bei (Aue im Erzgebirge, Chemnitz, Dresden, Eilenburg, Görlitz, Leipzig drei mal und Wurzen), aus Berlin-Brandenburg sieben Vereine (Berlin mal vier, Potsdam, Prenzlau und Wriezen, aus Schlesien und Posen, die heute Polnisch sind, ebenfalls sieben Vereine (Breslau, Bromberg, Landsberg, Liegnitz, Posen, Stettin und Zabrze) und aus Nordrhein-Westfalen ebenfalls sieben Vereine (Aachen, Barmen, Celle mal zwei, Cöln, Crefeld und Münster). Aus Schleswig-Holstein kamen fünf Vereine (Flensburg, Heide, Itzehoe, Lüneburg und Wesselburen), vier Vereine Vereine kamen aus Hessen (Cassel, Darmstadt, Fulda und Frankfurt am Main) ebenso wie aus Sachsen-Anhalt (Halberstadt, Halle, Löberitz und Magdeburg) und Bayern (Augsburg, Bamberg, Coburg und Nürnberg). Jeweils drei Vereine kamen aus Baden-Württemberg (Annaberg, Säckingen und Tübingen), Niedersachsen (Braunschweig, Göttingen und Hannover) und Thüringen (Altenburg, Apolda und Weimar). Aus Rheinland-Pfalz trat der Trierer Schachverein dem DSB bei und auch die Stadtstaaten Bremen und Altona (Hamburg) waren mit je einem Verein im DSB vertreten.

Es wird deutlich, daß bei der Gründung des DSB nur Vereine innerhalb der Reichsgrenzen vertreten waren und damit die „kleindeutsche“ Lösung unter Ausschluß von Österreich und von Gebieten der angrenzenden Länder, in denen große deutsche Minderheiten lebten, realisiert worden war. Immerhin waren aber im Juli, beim Kongress selbst, die beiden Wiener Schachmeister Englisch und Schwarz anwesend. Sie spielten im Meisterturnier mit und nahmen als Gäste auch an der Generalversammlung des DSB teil. Dabei brachte von Gottschall „ein Hoch aus auf die Schachspieler in Österreich, speciell auf die Wiener Schachgesellschaft und deren Delegirte, die Herren Englisch und Schwarz. Der Deutsche Schachbund werde bereitwilligst Hand in Hand gehen mit den befreundeten Nachbarn, und es stehe zu hoffen, das die Form gefunden werde, die einen Anschluss der Oesterreicher an den Deutschen Schachbund und ein dann gemeinschaftliches Wirken ermögliche.“ Die Gesamtkonstitution des DSB war dennoch in dieser Hinsicht nicht ganz eindeutig, denn Einzelpersonen aus dem Ausland konnten Mitglied im DSB werden, wenn sie Mitglied in einem deutschen Schachverein waren. Später sollte diese Uneindeutigkeit, auch hier den allgemeinen soziopolitischen Verhältnissen in Europa folgend, noch für Diskussionsstoff sorgen.

Zwanzig erarbeitete eine Satzung, die am 15. Juli 1879 in Leipzig auf dem ersten Kongress des DSB von der Generalversammlung verabschiedet wurde und an der auch Hofrath Dr. von Gottschall, Prof. Dr. Göring, Stadtrath Ed. Hermsdorf, Dr. Max Lange, Johannes Minckwitz und Richard Wuttig, sämtlich aus Leipzig, mitwirkten.

Die „Statuten des Deutschen Schachbundes“ von 1879 umfassten gerade einmal sieben Paragraphen. Sie waren damit äußerst kurz gefasst und regelten nur das Notwendigste. Neben allgemeinen Regelungen zur Beitragshöhe, der Beschlussfassung der Versammlung usw. sind es insbesondere drei Merkmale, die in der Folgezeit von besonderer Bedeutung für die Entwicklung des DSB werden sollten. Zum einen konnten, wie oben bereits erwähnt, nach § 2 nicht nur Schachvereine, sondern auch Einzelpersonen Mitglieder des Bundes werden. Zum anderen regelte § 4 die Stellung des Generalsekretärs, der „mit der dauernden Verwaltung der Bundesangelegenheiten betraut“ wurde und in Zusammenarbeit mit dem jeweiligen Platzausschuss die Vorbereitungen für den nächst bevorstehenden Kongress zu tätigen hatte. Die Position des Generalsekretärs entfaltete damit sowohl per Satzung, als auch de facto durch die Organisation des jeweils nächsten Bundeskongresses, der gemäß den Statuten alle zwei Jahre zur Ausführung gelangen sollte, eine außerordentlich mächtige Wirkung, was zunächst, so lange Zwanzig das Amt mit energischer, aber gerechter Hand führte, und von Kongress zu Kongress einmütig wiedergewählt wurde, keinerlei Anlass für Konflikte bot.

Das dritte Merkmal bezieht sich auf die allgemeine juristische Konstitution des Bundes. So weit aus den Quellen ableitbar ist, war der 1877 gegründete Bund keine juristische Person im eigentlichen Sinne und hatte demgemäß keine Möglichkeit, dauerhaftes Vermögen zu erwerben. Sein Sitz wechselte alle zwei Jahre von Kongressort zu Kongressort. So wurden beispielsweise bis in die späten 1890er Jahre hinein Spielmaterial, Pokale und Flaggen sowie anderweitiges Dekorationsmaterial zur Veranstaltung der Festlichkeiten, von Kongressort zu Kongressort weitergegeben, wobei es dem jeweiligen Kongressort letztlich oblag, für die ordnungsgemäße Ausstattung in materieller Hinsicht zu sorgen. Der Bund selbst hatte infolge seines niedrigen Beitragsaufkommens und der fehlenden Möglichkeiten, Vermögen beispielsweise durch Erbschaften zu erwerben oder anzusammeln, nahezu keine Aussichten, an dieser so wichtigen Stelle aktiv gestaltend einzuwirken. Es wird später im Zusammenhang mit der Diskussion um die Position Max Langes näher auf diesen juristischen Tatbestand einzugehen sein.

Zwanzig organisierte im Verein mit den Schachfreunden der jeweiligen Vororte insgesamt acht Kongresse nämlich 1879 in Leipzig, 1881 in Berlin, 1883 in Nürnberg, 1885 in Hamburg, 1887 in Frankfurt/M., 1889 in Breslau, 1892 in Dresden und 1893 in Kiel. Über alle Kongresse berichten Kongressbücher, die als einzigartige Dokumente in die Schachgeschichte eingegangen sind. Sie liefern auch heute noch interessante Einblicke in die Schachwelt vergangener Zeiten und legen Zeugnis ab von der kulturgeschichtlichen Bedeutung des Schachspiels in Deutschland.

Hermann Zwanzig war unermüdlich für den DSB tätig. Als er 1894, im Alter von nur 56 Jahren auf einer Geschäftsreise einem Herzinfarkt erlag, umfasste der DSB etwa 90 Schachvereine. Sein Organisationstalent und seine allseits geschätzte Kompetenz und Autorität sollten dem zu dieser Zeit gerade erst 17 Jahre alten Deutschen Schachbund bald fehlen.

1880 – 1918

Konsolidierung und Umbruch (1880-1918)

Die Zeit von 1880 bis zum Ende des ersten Weltkrieges im Jahre 1918, der die bis dahin geltende und mühsam aufrecht erhaltene Ordnung Europas vollständig zerstörte und damit auch das Schachleben einer tiefen Zäsur unterwarf, kann hinsichtlich der Geschichte des hier interessierenden Deutschen Schachbundes im wesentlichen in zwei Zeitabschnitte gegliedert werden.

3.1. Die Zeit der Konsolidierung (1880-1894)

Nachdem insbesondere Hermann Zwanzig, aber auch einige andere tatkräftige Persönlichkeiten wie Emil Schallopp (1843-1919) und vor allem die Leipziger Schachfreunde um Hofrat Rudolf von Gottschall (1823-1909) von der „Augustea“ und Dr. Max Lange (1832-1899), die Gelegenheit der Anderssen Jubiläumsfeier 1877 in Leipzig und die dort anhaltende Begeisterung zur Gründung des Deutschen Schachbundes genutzt hatten, kam es in der Folgezeit im wesentlichen darauf an, den Bund zu festigen und inhaltlich mit Leben zu füllen, damit die Schachfreunde in Deutschland die Existenzberechtigung des Bundes anerkennen konnten. In erster Linie bot sich hierzu, wie im übrigen auch unter § 1 der Statuten als Hauptzweck des DSB festgelegt, die Abhaltung regelmäßiger internationaler Kongresse an. Die internationalen Schachkongresse des DSB sollten überaus erfolgreich werden, denn sie erfüllten die Wünsche vieler Schachfreunde. Sie wurden ganz wesentlich durch die Person und den autoritären Führungsstil Hermann Zwanzigs geprägt und es mag eine Art Feuerzangenbowlen-Atmospäre geherrscht haben, in der Zwanzig im Stile des Rektor Knauer die Lage zwar autoritär, wie im wilhelminischen Deutschen Reich auch andernorts üblich, aber doch umsichtig und sensibel regelte. Die internationalen Kongresse des Deutschen Schachbundes sind durch die vorliegenden Kongressbücher gut dokumentiert und einzigartig in der Kulturgeschichte des Schachs. Sie stellen ein für alle Zeiten bleibendes Denkmal Deutscher Schachkultur dar und legen Zeugnis ab von einer beispiellosen Erfolgsgeschichte des organisierten Schachs in Deutschland. Diese Zeit darf im Rahmen der hier vorliegenden Trilogie zur Geschichte des Deutschen Schachbundes schon alleine deshalb eine herausragende, detaillierte Darstellung beanspruchen. Der Autor hat dennoch gerade im Hinblick auf die jedermann zugänglichen Reprints des verdienstvollen Olms-Verlages versucht, die Vorgänge um den DSB in der gebotenen Kürze wiederzugeben.

Bereits der in der Reichshauptstadt Berlin unter der Organisation von Emil Schallopp (1843-1919) durchgeführte zweite Kongress des DSB im Jahre 1881 sah ein starkes Teilnehmerfeld. Schallopp, der auch die ersten drei Kongressbücher des DSB verfasste, unterstützte den neu gegründeten DSB nach Kräften. Im Meisterturnier spielten u.a. Blackburne, Mason, die Paulsen-Brüder, Riemann, Schallopp, Tschigorin, Winawer und Zukertort. In Abweichung vom 1. Kongress wurde im Meisterturnier nur eine Partie pro Tag mit einer Bedenkzeit von 15 Zügen/Stunde gespielt (das Hauptturnier verlangte zwei Partien pro Tag). Sieger wurde mit deutlichem Abstand Blackburne (1841-1924) vor Zukertort, Tschigorin, Winawer und Mason, was bei den deutschen Schachfreunden für nicht unerhebliche Enttäuschung sorgte, war doch der beste, wirklich „deutsche“ Teilnehmer, nämlich Minckwitz, nur als geteilter Siebter in’s Ziel gekommen.

Zwanzig, zum Generalsekretär auf Lebenszeit gewählt, hatte weiterhin unermüdlich auf seinen Reisen in Deutschland für den DSB geworben. Mittlerweile (1881) gehörten dem DSB 75 Vereine an, was einer Steigerung um 13 Vereine entsprach. Zwanzig erarbeitete unter Mitwirkung von Minckwitz, Riemann, Schallopp, Dr. Schmid und Wemmers neue Statuten, die auf dem 3. Kongress in Nürnberg 1883 mit nur geringen Änderungen angenommen wurden. Die Satzung war umfangreicher geworden und umfasste nunmehr 13 Paragraphen. Die Stellung des Generalsekretärs war stark. Im Turnier von 1883 gewannen wieder Ausländer die ersten Preise. Winawer wurde Sieger im Meisterturnier vor Blackburne, Mason und Berger. Am Nebenturnier nahm mit Phillipp Valerius auch ein Schachspieler aus Offenbach/M. teil. Das Festbankett konnte sich sehen lassen und wurde von 120 Mitgliedern des Kongresses besucht.

Die humoristisch gehaltene Speisekarte ist ein Meisterstück an Einfallsreichtum.

Die Generalversammlung war kurz und wenig kontrovers. Zwanzig berichtete, daß nunmehr 86 Schachvereine Mitglied seien, was einem erneuten Zuwachs von 18 Vereinen mit etwa 150 Mitgliedern entsprach. Veranlassung zu einer kurzen Diskussion bot lediglich eine von der Schachgesellschaft zu Offenbach/M. ausgehende Anregung zur Schaffung eines Bundesabzeichens. Weil die Ansichten hierüber jedoch sehr divergierten, wurde ein Beschluss in dieser Angelegenheit nicht gefasst, sondern dieselbe vielmehr dem Generalsekretär zur weiteren Erwägung überwiesen.

Der vierte Kongress des DSB fand 1885 in Hamburg statt. In dem von Minckwitz über den vierten Kongress 1885 in Hamburg herausgegebenem Kongressbuch wird auf das babylonische Sprachengewirr abgehoben, das die zum vorläufigen Vereinigungspunkt bestimmten Alsterhalle füllte. Es kann durchaus beispielhaft als Beleg dafür herangezogen werden, wie kosmopolitisch und weltoffen die Atmosphäre der Kongresse des DSB waren. Dabei war von Antisemitismus keine Spur. Minckwitz schreibt im Kongressbuch: „Hier bot sich dem Auge des unbefangenen Beobachters bald ein buntes Bild und dem lauschenden Ohre ein babylonisches Sprachengewirr dar. Wohlbekannte, auf allen größeren Kongressen vertretene, schachverdächtige und schachunverdächtige Physiognomieen aus aller Herren Länder tauchten auf. Dort die charakteristischen Köpfe der Schachhäupter und Schachhäuptlinge Capitän Mackenzie, Bird, Schallopp; hier das wohlwollende, von kurzem schwarzen Barthaar eingerahmte Antlitz des würdigen Herrn Generalsekretärs, daneben die breitschulterige, etwas vornüberhängende Gestalt des Herrn E. Hartwig und die geschmeidige des Herrn H. C. Fischer; da wieder die hohe ‚bis zum Genick reichende’ Denkerstirn des Herrn Dr. Schmid und die biderbe Persönlichkeit Wilfried Paulsens, sowie die unscheinbare, mit klugen, Witz und Ironie sprühenden Augen bedachte des kleinen Zukertort, und das muntere, Gesundheit strahlende, bartlose Gesicht Schurigs u.s.w.: Alt und Jung durcheinander. Nicht minder interessant das Sprachengewimmel. Hier plaudert das schneidige Berliner Kind mit einem gemütlichen, nonchalanten Österreicher, das heitere ‚Münchener Kindl’ mit den Hauptturnierspielern und eifrigen Schachjüngern Hamburgs – Joseph und Benjamin (die biblische Geschichte ist also vertreten: wir finden da u.a. noch einen David, wenn auch nicht Psalmensänger, so doch Konzertmeister!), dort scherzen und lachen die fröhlichen Studiosi oder vor kurzem in das Philisterland gezogenen alten Häuser W. Bauer, Dr. Tarrasch, Riemann, Mendelssohn, Seufert. Dr. Kauders und Professor Berger debattieren über die bevorstehende Entscheidung im Problemturnier … . Die Engländer radbrechen in deutscher, die Deutschen in englischer Sprache. Kurzum:

Ein Vergnügen eig’ner Art

Ist doch so’ne Schächerfahrt“.

Das Hauptturnier war in Hamburg so zahlreich besucht, daß vier Gruppen gebildet werden mußten. Aus der Siegergruppe ging Max Harmonist (1864-1907), königlicher Erster Tänzer, als Sieger hervor. Traditionsgemäß fand wieder eine Blindsimultanvorstellung statt, wobei Alexander Fritz (der blinde Hesse) gegen dieselbe Frau Hofschauspielerin Beck wie bereits 1883 in Nürnberg in galanter und liebenswürdiger Weise ein Remis abgab. Selbstverständlich wurde auch wieder ein Problemturnier veranstaltet. Ein Ausflug nach Blankenese, eine Hafenrundfahrt und die Rückkehr auf dem Alsterbassin in Mondscheindurchfluteter Nacht blieben allen Teilnehmern in angenehmer Erinnerung.

In der Generalversammlung wurde im Zuge eines vom Schachklub Darmstadt gestellten Antrages, den Generalsekretär mit einer Aufwandsentschädigung auszustatten, die Verdienste Zwanzigs um den DSB noch einmal ausdrücklich hervorgehoben. Die Versammlung bejahte die grundsätzliche Notwendigkeit einer Aufwandsentschädigung und es wurde eine Kommission bestehend aus Minckwitz, Schallopp und Riemann gebildet, die die Aufwandsentschädigung für die zurückliegenden Jahre auf insgesamt RM 150.- und für das kommende Jahr auf RM 150.- festlegte. Die Aktivitäten der Hessischen Schachvereine aus Frankfurt/M., Darmstadt und Offenbach/M. am Main dürften sicherlich der Hauptgrund dafür gewesen sein, daß der Vorsitzende des Schachklubs in Frankfurt, Wilhelm Bauer, den Zuschlag zur Ausrichtung des fünften Kongresses des DSB erhielt.

Dieser fand vom 17. Juli bis 31. Juli 1887 statt und hatte erneut großen internationalen Zuspruch. Die Kongresse des DSB, der nunmehr aus 92 Vereinen mit etwa 2500 Mitgliedern bestand, hatten sich zu allseits beliebten und anerkannten Schachturnieren entwickelt. Journalisten aus der ganzen Welt berichteten über die Turniere. Aus London waren regelmäßig Leopold Hoffer (1842-1913) als Berichterstatter für den von ihm und Zukertort (1842-1888) herausgegebenen Chess Monthly anwesend. Am Meisterturnier in Frankfurt nahm eine erlesene internationale Meisterschar teil: Mackenzie, New York, Blackburne, Gunsberg und Zukertort aus London, Burn aus Liverpool, Taubenhaus aus Paris, Schiffers und Alapin aus St. Petersburg, Weiss und Englisch aus Wien, Berger aus Graz, Dr. Noa aus Großbecskerek, Schallopp, von Bardeleben, Harmonist und von Schweve aus Berlin, von Gottschall aus Leipzig, L. Paulsen aus Blomberg, Metger aus Kiel, Tarrasch aus Nürnberg, und Fritz aus Darmstadt. Mackenzie gewann vor Blackburne und Weiss. Der Amerikaner Mackenzie spielte das Turnier seines Lebens und holte den ersten Preis im Meisterturnier. Der Offenbacher Phillipp Valerius holte in einem Nebenturnier mit drei aus sechs Punkten 50%. Das Geselligkeitsprogramm führte die Teilnehmer zu Ausflügen in den malerischen Rheingau mit Besichtigung des Niederwalddenkmals und der Burg Rheinfels. Alexander Fritz (der singende Hesse) gab eine Kostprobe seiner Gesangeskunst.

1889 traf man sich in Breslau. Tarrasch, 27 Jahre alt, holte den ersten Preis. Endlich hatte ein Deutscher und noch dazu ein „Kind aus Breslau“, der Stadt Anderssens, des Vorkämpfers Deutschlands, den Sieg errungen, was die nationale Seele der Deutschen außerordentlich labte.

Der Sieg des Juden Tarrasch (1862-1934) wurde von den Schachfreunden im Deutschen Reich des Jahres 1889 als selbstverständliche Normalität angesehen. Tarrasch war zum Nachfolger Adolf Anderssens geworden und sollte späterhin auch den Titel Praeceptor Germaniae erhalten. Amos Burn, in Frankfurt noch abgeschlagen auf dem 11. Rang, erzielte den zweiten Platz und ließ sich sein Preisgeld – ganz der englische Snob – in englischen Goldmünzen auszahlen. Der 21jährige Emanuel Lasker (1868-1941) siegte im Hauptturnier und errang damit die Berechtigung zur Teilnahme am Meisterturnier des nächsten Kongresses. Alexander Fritz (1857-1932) aus Hessen gab das traditionelle Blindlingssimultan gegen zehn Gegner, bei dem er fünf Partien gewann, zwei remisierte und drei Partien verlor und sorgte dabei in der allgemeinen Bevölkerung für nicht unerhebliches Aufsehen. Die Werbewirksamkeit dieser Blindvorstellungen war erheblich. Das Geselligkeitsprogramm konnte sich mit den Höhepunkten in Hamburg (Alsterfahrt) und Frankfurt (Rheingaufahrt) messen und endete mit einem Feuerwerk während einer Dampferfahrt auf der Oder. Am Festmahl nahmen etwa 70 Personen teil.

An der am Sonntag, den 14. Juli 1889, abgehaltenen Generalversammlung nahmen nur wenige Vereine teil. Der Bund umfasste 96 Vereine mit etwa 2600 Mitgliedern und hatte damit seine Höchstmitgliederzahl erreicht und es war eine gewisse Stagnation im Verlauf zum vorherigen Kongress nicht zu übersehen. Zwanzigs Position war unverändert stark und unangefochten. Seine Kassenführung und Tätigkeit war tadellos, sodaß ihm die Versammlung Entlastung erteilte. Bemerkenswert ist, daß die Versammlung eine Ermäßigung des Bundesbeitrags für einen Arbeiterschachverein beschloß. Schach war zum weitverbreiteten Spiel geworden. Von besonderer Bedeutung war die Verabschiedung einer Problemturnier-Ordnung, welche unter führender Beteiligung des Österreichers Johann Berger (1845-1933) im Einvernehmen mit Kürschner, Kockelkorn und von Gottschall erarbeitet worden war.

Die Turniere des Deutschen Schachbundes waren zur Kader- und Theorieschmiede geworden und es erstaunt deshalb ganz besonders, daß ein Name auf den Teilnehmerlisten jener Jahre immer fehlt: Wilhelm Steinitz (1836-1900). Steinitz im deutschen Kulturkreis groß geworden, lebte zwar seit Mitte der 1880er Jahre in New York, doch wäre eine Teilnahme an den Turnieren des DSB logisch gewesen. Ein Grund für das Fehlen von Steinitz könnte in der Nähe von Leopold Hoffer und Johannes Zukertort zu den Kongressorganisatoren zu suchen sein. Zukertort und Hoffer waren beide seit Beginn der DSB-Kongresse regelmäßige Besucher und Teilnehmer an denselben. Steinitz hatte schon zu seiner Londoner Zeit Ärger mit Zukertort. Der Budapester Leopold Hoffer und der Prager Wilhelm Steinitz, beide der deutschen Sprache mächtig, führten über ihre Schachzeitungen (The Chess-Monthly, Hoffer; The International Chess Magazine, Steinitz) einen erbitterten Streit. So sollte Steinitz erst 1898 in Köln auf der „Suche“ nach seinem im Mai 1894 an Lasker verlorenen Weltmeistertitel einen Kongress des Deutschen Schachbundes besuchen.

Im Hinblick auf das schwache Erscheinen der Vereine in Breslau 1889 gestaltete sich die Auswahl des nächsten Vorortes als schwierig und so fand der nächste Kongress des DSB erst drei Jahrespäter 1892 in Dresden statt. Der Bund schwächelte und hatte hinsichtlich seiner Mitgliederzahl den Zenit überschritten, denn er zählte mit 92 Mitgliedsvereinen sechs weniger als im Jahre 1889. Dennoch – das Geselligkeitsprogramm konnte sich mit den vorherigen Festlichkeiten in Hamburg, Frankfurt und Breslau wohl messen. Das Festbankett fand am Dienstag, den 19. Juli 1892 im großen Saal der Philharmonie statt und wurde durch die Anwesenheit des Altmeisters Max Lange, der extra aus Leipzig nach Dresden gekommen war, geehrt. Etwa 100 Gäste hatten sich eingefunden. Etwa 70 Gäste nahmen auch an der Dampferfahrt auf der Elbe in die sächsische Schweiz teil. Paul Schellenberg (1843-1920) veröffentlichte seinen vollkommenen Schachkorkser für 1 M 50. Das Turnier war von vielen Streitfällen geprägt und die Schiedskommission musste fast permanent tagen. Tarrasch wurde zum zweiten Mal Sieger, diesmal mit 1,5 Punkten Vorsprung und erhielt den mit 1000 Mark üppig dotierten Preis.

In der Generalversammlung, die bislang regelmäßig wenig kontrovers verlaufen war, musste Zwanzig erstmals seine ganze Autorität in die Waagschale werfen, um den Bund nicht aus dem Ruder laufen zu lassen. Anlaß war der von Schallopp vorgetragene Antrag der Berliner Schachgesellschaft, der DSB wolle beschließen, „daß in seinen Kongressen abwechselnd nationale und internationale Meisterturniere abgehalten werden“. Zwanzig anerkannte zwar einerseits die Notwendigkeit zur Abhaltung von nationalen Turnieren, argumentierte aber andererseits, daß dies in Abweichung vom Begehren der Berliner Schachgesellschaft nur nach und nach geschehen könne, zumal der Bund nicht die finanziellen Mittel habe, um zusätzlich zu den internationalen Turnieren auch noch nationale Turniere materiell zu unterstützen. Vielmehr müssten die Klubs die Nationalturniere, wenn sie sie denn veranstalten wollten, selbständig und ohne Zuschuß aus der Bundeskasse veranstalten. Gleichzeitig verwahrte er sich gegen eine in seinen Augen „herabwürdigende Kritik“, die in den einleitenden Worten zum Antrag der Berliner Schachgesellschaft zum Ausdruck gekommen war. Es ist bei der Lektüre der diesbezüglichen Berichterstattung spürbar, daß Zwanzig alle Register seiner ihm über die Jahre zugewachsenen Autorität benutzen mußte, um den Antrag der Berliner abzuschmettern. Unterstützung fand er dabei zunächst durch Tarrasch (Nürnberg), Metger (Kiel) und Seeger (Breslau). Freilich waren auch die Berliner nicht einheitlich in der Vertretung ihrer Interessen. Zwar war der Antrag publizistisch durch Albert Heyde und seine Mitarbeiter Heinrich Ranneforth und Oscar Cordel in dem von Heyde herausgegebenen Deutschen Wochenschach vorbereitet worden, doch scherte Cordel aus der Front aus und milderte den Druck auf Zwanzig ab. Nach lebhafter Diskussion einigte man sich schließlich einstimmig auf die von Cordel formulierte und von Tarrasch modifizierte Antragsfassung: „Die Delegiertenversammlung spricht den Wunsch aus, daß der Deutsche Schachbund nach Möglichkeit außer den alle zwei Jahre zu veranstaltenden Turnieren auch die Veranstaltung nationaler Turniere in die Hand nehmen möge“. Eine wachsweiche Formulierung, die dem Generalsekretär unverändert freie Hand ließ. Auch ein weiterer Antrag der Berliner Schachgesellschaft, der maßgeblich von Albert Heyde inspiriert war, nämlich der Deutsche Schachbund wolle beschließen, daß „die Veröffentlichungen des Bundes durch den Generalsekretär den gelesensten deutschen Schachzeitungen zugehen sollen“ wurde aus formalen Gründen abgelehnt. Die Art und Weise wie insbesondere dieser Antrag aus bloß formalen Gründen und nicht etwa nach inhaltlicher Diskussion abgelehnt wurde, hat sicherlich Verletzungen auf Seiten der Berliner hinterlassen. Sie dürften mit dazu beigetragen haben, in Berlin eine dem DSB im Grundton feindselige Stimmung hervorzurufen. Diese sollte Max Lange, der die Leitung des DSB nach dem Tode von Zwanzig im Jahre 1894 übernahm, noch zu spüren bekommen.

Es ist aus den Quellen einerseits nicht sicher ableitbar, daß Fremdenfurcht oder womöglich Antisemitismus die Bestrebungen der Berliner Schachgesellschaft und des Deutschen Wochenschachs leiteten. Bei der Schilderung der Vorgänge um die Anträge der Berliner Schachgesellschaft wird andererseits auch eine zunächst natürlich anmutende Entwicklung im allgemeinen deutschen Schachleben deutlich. Schach war nicht mehr das im kleinen Kreis und im Rahmen einer „freimaurerischen Verschwörergruppe“ gepflegte Spiel, sondern hatte sich mit der zunehmenden Entwicklung des Schachlebens einhergehend mit der allgemeinen Industrialisierung Deutschlands ganz selbstverständlich in weiten deutschen Bevölkerungskreisen seinen Platz erkämpft. Gerade im „melting pot“ Berlin, war der Ruf nach einem Turnier, an dem auch der „kleine Schächer“ mitspielen konnte, nicht abwegig und eine Änderung des § 1 der Statuten, in dem nur die Veranstaltung von Kongressen verankert war, erschien logisch und zeitgemäß. Darüber hinaus waren die Kosten, die der jeweilige Vorort zur Veranstaltung eines großen internationalen Kongresses zu tragen hatte, ganz erheblich, denn der DSB steuerte lediglich 1000.- RM aus der Bundeskasse bei, was nur etwa einem Siebtel der Gesamtkosten entsprach. Es bestand in dieser Frage Handlungsbedarf, die Zeit des Umbruchs nahte. Dies war allen Kongressteilnehmern klar und so war der nächste Kongress 1893 in Kiel ein nationaler Kongreß, der jedoch bezüglich der Statuten zunächst keine nennenswerte Änderung brachte. Metger (1851-1926) gab das deutlich umfangärmere Kongressbüchlein heraus.

3.2. Die Zeit des Umbruchs (1894-1918)

Es ist hypothetisch zu fragen, wie Zwanzig die Probleme und potentiellen Konfliktpunkte der neuen Zeit angegangen wäre, denn er starb kinderlos am 6. Januar 1894 auf einer Reise in Gera wahrscheinlich an einem Herzinfarkt. Der Deutsche Schachbund stand ohne Leitung da und die Gemengelage im Deutschen Reich und Österreich-Ungarn war außerordentlich komplex.

Da waren die Befürworter einer Stärkung und Fortführung der internationalen Turniere, für die beispielhaft Tarrasch stehen mag. Bereits am 16. Januar 1894, 10 Tage nach Zwanzigs Tod, veröffentlichte Tarrasch im Deutschen Wochenschach (Chefredakteur: Albert Heyde) offensichtlich bereits vor Zwanzigs Tod erarbeitete Vorschläge zur Neuorganisation des Bundes. Dabei betonte er, auf den niedrigen Zuschuss des DSB zu den Kongresskosten abhebend, „die Ueberflüssigkeit des Deutschen Schachbundes, wenn derselbe nur die verhältnismässig geringe Summe von 1000 Mk. beisteuert“ und meinte weiter „so veranstaltet nicht er den Kongress, sondern der Vorort, welcher auf diese 1000 Mk. ganz gut verzichten könnte … „. Tarrasch legte seinem eigenen Interesse entsprechend besonderen Wert auf die Abhaltung internationaler Turniere durch den DSB. Die zwei Hauptpunkte des Tarrasch’schen Vorschlages waren 1. „der Deutsche Schachbund muss mehr Geld beisteuern“ und 2. „die Kosten eines Kongresses müssen verringert werden“. Es entspann sich im Deutschen Wochenschach (nicht der Deutschen Schachzeitung) eine Diskussion, in der sich Tarrasch auch für eine Demokratisierung des Bundes einsetzte: „Bisher war Zwanzig Alles: Vorsitzender, Schatzmeister, Schriftführer, Kongressleiter. … Dieses ungeheuerliche Verhältnis muss aufhören. Nicht Einer muß Alles thun, sondern die einzelnen Funktionen müssen vertheilt werden“. Tarrasch erhielt weitestgehende Zustimmung bei den Mitgliedern der Berliner Schachgesellschaft und fand Unterstützung insbesondere auch durch Albert Heyde (1866-1920), der mit der Herausgabe des allwöchentlich erscheinenden Deutschen Wochenschachs eine mächtige publizistische Aktivität entfaltete.

Auch die Förderung des nationalen Nachwuchses wurde erstmals vom Dresdner Geheimrat Dr. Robert Wuttke thematisiert. Seine Ausführungen repräsentierten dabei die Meinung einer starken Gruppe innerhalb des DSB, die für eine Regionalisierung des deutschen Schachs im Sinne des Aufbaus von Verbandsstrukturen eintrat, um das allgemeine schachliche Niveau zu stärken und der Basis gleichzeitig auch etwas an Gegenleistung für den Eintritt in den Bund zu bieten, denn die zunehmende Zahl der Schachspieler wollte nicht nur die großen Meister auf den internationalen Turnieren bewundern, sondern selbst schachpraktische Erfolgserlebnisse in Turnieren erzielen. Dabei führte der dem Berliner Kreis nahestehende Wuttke jedoch einen Zungenschlag in die Diskussion ein, der das nationale Element gefährlich instrumentalisierte: „In den Jahren 1879-1892 hat der Bund 7 internationale Kongresse mit einem Kostenaufwand, von rund 47,000 Mk. abgehalten; es beteiligten sich daran 62 Ausländer, die 14,485 Mk. gewannen, und 61 reichsdeutsche Meister, die nur 4965 Mk. an Preisen errangen …. . Während desselben Zeitraumes wurden im Ausland Oesterreich, England, Nordamerika – ebenfalls nur 8 grössere internationale Turniere abgehalten, an denen 8 Reichsdeutsche … teilnahmen; über 60,000 Mk. kamen an Preisen zur Verteilung, davon gewannen die Deutschen 2450 Mk. ….“. Wuttke führte weiter aus, daß die Stärke des deutschen Schachspieles in der Abhaltung der Hauptturniere liege und formulierte Forderungen, wie sie ähnlich bereits Max Lange 30 Jahre früher aufgestellt hatte: „Wir Deutsche verlangen keinen Einheitsstaat, sondern Selbständigkeit der Glieder; … wir müssen, wo es geht, im Anschluss an bestehende Vereine, wie dem bayrischen, erzgebirgischen usw. Bund, neue Kreis-, Stamm- und Landschaftsverbände, einen sächsischen, schlesischen usw. Bund bilden, deren Aufgabe darin bestände, innerhalb ihres Kreises kleinere Turniere abzuhalten, die Gelder flüssig zu machen und einzuziehen und die einzelnen Vereine fester an das ganze anzugliedern. Aus diesen Vereinigungen bestehe der allgemeine, deutsche Schachbund; ihre Vorstände wählen den Bundessekretär und unterstützen ihn in der Leitung.

Max Lange übernahm 1894 nach dem Tode Hermann Zwanzigs interimistisch die Leitung des Bundes. Die Leipziger Schachfreunde im Verein der „Augustea“ sprangen ein und sorgten durch die Übernahme der Organisation des Schachkongresses in Leipzig 1894 zunächst dafür, daß eine geordnete Delegiertenversammlung zur Besprechung der drängenden Fragen stattfinden konnte. In der Gründungsphase des Bundes waren die Meister weitgehend integriert in die Gemeinschaft eines relativ kleinen Kreises Verschworener gewesen. Mit zunehmender sozioökonomischer Entwicklung und Vermassung des Schachspiels war dieser mehr private Kreis seiner „heimelnden“ Atmosphäre verlustig gegangen und es war notwendig geworden, Strukturen zu finden, die, auf breitere und vor allen Dingen demokratischere Beine gestellt, ein besseres Funktionieren des Bundes und ein größeres Mitsprachrecht seiner Mitglieder gewährleisten konnten. Dabei ging es letztlich auch um Verbandsstrukturen, Machtverteilung und die Heranziehung des Nachwuchses. Gerade die zu Beginn des Bundes zunächst so erfolgreiche Strategie Zwanzigs, die Vereine selbst für den DSB zu rekrutieren, erwies sich nun als Hemmschuh und wenig zukunftsfähig, denn es fehlte mit wachsender Mitgliederzahl der organisch gewachsene, strukturelle Unterbau, der in der Lage gewesen wäre, einen lokalen Spielbetrieb zu organisieren. Dies sollte noch für eine ganze Reihe von Jahren so bleiben. Dennoch war insofern Lange, der ja schon in den 1860er Jahren die Organisation regionaler Schachverbände gefördert und gefordert hatte, der ideale Mann, der zumindest vom theoretischen Rüstzeug her den Bund in neue Zeiten hätte führen können.

 

Max Lange. 2. Präsident des DSB

 

Der DSB stand „vor einem Wendepunkte“ seiner Entwicklung. Das sah auch Max Lange in seiner Eröffnungsansprache zum Kongreß in Leipzig 1894 so. Langes Antrag auf dem Kongress, der bereits im Vorfeld von Tarrasch und Heyde im Deutschen Wochenschach heftig bekämpft worden war, strebte für den Bund den Erwerb des Korporationsrechtes im Sinne einer juristischen Person an. Aufgrund der juristischen Rahmenbedingungen im Deutschen Reich und des Freistaates Sachsen hätte der Erwerb eines solchen Korporationsrechtes jedoch nur realisiert werden können, wenn Leipzig ständiger Sitz des Bundes geworden wäre und dabei sämtliche Vorstandsmitglieder aus dieser Stadt gekommen wären. Viele Mitglieder des DSB hatten deshalb die nicht unbegründete Furcht, sich damit einer von Partikularinteressen geleiteten Hegemonie Leipzigs und der Augustea zu unterwerfen, sodaß unter Führung von Heyde und Tarrasch der Antrag Langes zu Fall gebracht wurde. Zwar erhielt Lange, der nach humanistischer Bildung ein Doppelstudium in der Jurisprudenz und der Philosophie absolviert hatte, allseits ausgiebiges Lob ob seiner geschliffenen Vorträge und Reden. Er scheint aber zu einem intellektuellen Hochmut geneigt zu haben, der ihm nicht nur Freunde machte. Lange zeigte ein feines Gespür für Macht und ließ sich nicht so einfach das Ruder aus der Hand nehmen. Er wurde auf weitere zwei Jahre zum Bundesverwalter gewählt, was ein Erfolg war, denn die Gruppe um Heyde hatte versucht, den Berliner John Bierbach durchzusetzen. Langes Verhandlungsführung während des Kongresses, in der ihn pikanter Weise das Ehrenmitglied der Berliner Schachgesellschaft Emil Schallopp unterstützte, provozierte aber erheblichen Unmut. Es war eine Pattsituation entstanden, in der sich keine der beiden Seiten in reiner Form hatte durchsetzen können, weshalb die eigentlich drängenden Fragen, wie Aufbau eines lokalen und nationalen Spielbetriebes zur Befriedigung der Bedürfnisse des „normalen“ Schachspielers und ökonomische Sicherung der Mittel zur Veranstaltung der erfolgreichen und anerkannten internationalen Turniere des DSB nicht geklärt bzw. angegangen wurden. Die Generalversammlung vertraute die weitere Ausarbeitung der Statuten deshalb einer Kommission an, welche aus Tarrasch, Bierbach (Berlin) und Lange bestand und in der Lange somit in der Minderheit war. Die Kommission sollte nie tagen. Die Versammlung beschloss darüber hinaus, den nächsten Kongress 1896 in Nürnberg stattfinden zu lassen. Es gelang Lange in der Folgezeit nicht, die Schachfreunde im DSB zu vereinen. Dafür scheinen auch persönliche Inkompatibilitäten der damals im DSB einflussreichen Personen verantwortlich gewesen zu sein, denn man warf sich gegenseitig Machtstreben (Tarraschs Vorwurf an Lange: Posten im DSB) und persönliche Eitelkeit (Langes Vorwurf an Tarrasch: Veranstaltung eines internationalen Turniers) vor. Es ist vor diesem personellen Hintergrund aus heutiger Sicht nicht ganz klar, inwieweit die zum Ende des 19. Jahrhunderts aufgetretenen strukturellen und konzeptionellen Probleme des DSB überhaupt hätten gelöst werden können.

Im Vorfeld zur Organisation des 10. Bundeskongresses kam es schließlich zum Eklat und die Nürnberger Schachfreunde um ihren 1. Präsidenten Siegbert Tarrasch traten aus dem DSB aus. Der zu intellektuellem Hochmut neigende Geist des 64jährigen Altmeisters Lange, Sieger der ersten drei Turniere des westdeutschen Schachbundes, Verfasser vieler schachpraktischer Bücher und Angehöriger der „Patrizierkaste“ in Leipzig, vertrug sich nicht mit dem selbständigen und unabhängigen Geist des 34jährigen, aufstrebenden und sich als Weltmeister fühlenden, jungen Meisters Siegbert Tarrasch, der für Deutschland Erster in der Welt sein wollte. Die Nürnberger veranstalteten auf eigene Rechnung ein internationales Turnier. Die damaligen Interessen Tarraschs, mit denen er sich im Einklang mit vielen im DSB und insbesondere der Berliner um John Bierbach wusste, formulierte er selbst im Turnierbuch am besten: „Meine verehrten Meister der edlen Schachspielkunst! Als wir vor zwei Monaten die Einladungen zu unserem Turnier ergehen ließen, da schwebte uns als leitende Idee, als ein Ziel, auf’s Innigste zu wünschen, der Gedanke vor, ein Turnier zu stande zu bringen, an welchem nur die wirklichen Meister des königlichen Spiels unter sorgfältigem Ausschluß aller Dilettanten teilnehmen sollten, ein Turnier, in welchem es für jeden die höchste Ehre wäre zu siegen und für niemanden eine Schande zu unterliegen“. Tatsächlich waren alle großen Meister der Zeit in wohl nie mehr so erreichter Vollzähligkeit vertreten und es entbehrt nicht einer gewissen Tragik, daß Tarrasch, der als Sieger der drei vorausgegangenen internationalen Turniere des Deutschen Schachbundes in Breslau (1889), Dresden (1892) und Leipzig (1894) sowie als Sieger der großen Turniere in Nürnberg 1888 und Manchester (1890) ganz selbstverständlich den Weltmeistertitel für sich beanspruchte, auf seinem „eigenen“ Turnier nicht Sieger wurde, sondern seinem Rivalen Lasker den Vortritt lassen musste.

Max Lange organisierte unterdessen zeitgleich einen DSB-Kongress in Eisenach, auf dem er in Konkurrenz zu dem von den Berlinern vorgeschlagenen Gegenkandidaten John Biermann nach heftigen Debatten auf zwei Jahre erneut zum Bundesverwalter gewählt wurde. Dabei machte er sich zum Sprachrohr der anderen Strömung im DSB: „Man wird sich über die Frage auszusprechen haben, ob die wahre Förderung des Schachspieles in Deutschland, die den Grundzweck des Schachbundes bildet, lediglich durch immer kostspieligere Ausstattung von internationalen Meisterturnieren mit ihrer natürlichen Begünstigung des berufsmässigen Schachtreibens, oder ob sie neben einer massvollen Rücksicht auf das schachliche Artistenthum auch durch mindestens gleichberechtigte Wahrnehmung der Interessen aller deutschen Schachfreunde, die das edle Spiel ausschliesslich als eine bevorzugte Geisteserholung pflegen, sowie durch die Fürsorge für thunlichste Verbreitung des Schach in immer weitere Kreise erreicht werde.

Die derzeitige Bundesverwaltung neigt sich dem letztgenannten Standpunkte zu und erblickt in einer weisen Beschränkung der Meisterpreise, in Hebung und Erweiterung der Hauptturniere, sowie in einer verhältnismässig stärkeren Verwendung der Bundesmittel als bisher auf die allgemeine Förderung des Schachspieles den eigentlichen Werth des Schachbundes, dessen Mitgliedern für ihre regelmässigen Steuerleistungen noch eine greiflichere Gegenleistung gebührt als das stolze Bewusstsein, durch ihre Beiträge dem jedesmaligen Vororte zu einer recht glänzenden Ausstattung seiner internationalen Meisterturniere zu verhelfen.“

Dr. Trimborn, dritter Präsident des DSB

Daraufhin traten auch die Berliner Schachgesellschaft und in der Folgezeit viele weitere süddeutsche, brandenburgische und andere Vereine aus dem DSB aus. Der DSB war in eine Krise geraten und als Lange am 8. Dezember 1899 verstarb, zählte der Bund nur noch etwa 45 (nach anderer Angabe 36) Vereine. Der 12. Kongress des DSB fand im Jahre 1900 in München unter der Leitung von Dr. Trimborn statt, der 1898 auf dem 11. Kongresss in Köln zum Stellvertreter Langes gewählt worden war. Man einigte sich in München auf die folgende Richtschnur „1. Es soll eine Form gefunden werden, die es ermöglicht, den Deutschen Schachbund nach den Vorschriften des BGB. in das Vereinsregister eintragen zu lassen. 2. Die bisherige Gliederung des Bundes in Vereine und Einzelmitglieder ist beizubehalten.“ Die Probleme, eine angemessene und tragfähige, juristisch einwandfreie Konstruktion für den DSB zu finden, waren nicht unerheblich und es verwundert deshalb nicht, daß die Verhandlung und Diskussion zunehmend Züge eines juristischen Fachseminars annahmen. Juristen wie Landgerichtsrat Schwan aus Cleve und Amtsgerichtsrat Friedländer aus Cöln nahmen sich der Sache des Bundes an, zunächst unter der Leitung des Arztes Trimborn, dann des Lehrers Gebhardt. Eine fast reine Funktionärstruppe bestimmte die weiteren Geschicke des DSB. Dies sollte in der Folgezeit auch weitgehend so bleiben, auch wenn Trimborn und Schwan noch vor dem nächsten Kongress 1902 in Hannover von ihren Ämtern zurücktraten.

Rudolf Gebhardt, vierter Präsident des DSB

Die Berliner Schachgesellschaft und der Nürnberger Tarraschklub und viele andere Vereine waren dank der Bemühungen von Gebhardt dem DSB 1901 wieder beigetreten und man bemühte sich, im Sinne eines Kompromisses und zuweilen auch der (finanziellen) Not gehorchend in der Folgezeit zweijährlich alternierend nationale und internationale Turniere zu veranstalten. Hannover 1902 war ein internationales Turnier auf dem Pillsbury seine berühmte Blindlingsvorstellung gegen 21 starke Hauptturnierspieler gab. Coburg, der Wohnsitz von Gebhardt, beherbergte 1904 einen nationalen Kongress, Nürnberg 1906 war wieder Schauplatz eines internationalen Turniers und Düsseldorf richtete 1908 einen nationalen Kongress aus, wobei dieser jedoch besondere Bedeutung durch den Wettkampf um die Weltmeisterschaft zwischen Lasker und Tarrasch erhielt. Das Kongressbuch, das regelmäßig Anlaß zur Kritik wegen seines späten Erscheinens geboten hatte und unter Langes Ägide überhaupt nicht mehr erschienen war, wurde in Hannover 1902 erstmals in mehreren Lieferungen erstellt und herausgebracht, um eine bessere Aktualität zu gewährleisten, wobei dies jedoch zu Lasten der Qualität der Anmerkungen ging. Auch die Landesverbände begannen sich zu konstituieren und bildeten zunehmend den für einen Spielbetrieb erforderlichen strukturellen Unterbau. Eine neue Zeit hatte begonnen und eine neue Generation hatte das Ruder übernommen, wenn auch der verdienstvolle Rudolf Gebhardt (1859-1929), ein Lehrer der alten Sprachen und Leiter des Gymnasiums in Coburg, die alte patriarchalische Feuerzangenbowlen-Atmosphäre noch einmal perpetuieren sollte.

Tarrasch konnte den nur drei Jahre älteren Gebhardt akzeptieren und widmete ihm das Kongressbuch. Gebhardt erließ im Juni 1906 an die Vorstände der Provinzialverbände das folgende Schreiben: „Zu den vornehmsten Zielen des D. Schachbundes gehört es, die Ausbreitung des Schachspiels innerhalb des Deutschen Vaterlandes fördern zu helfen und der gesunden Entwicklung dieser edlen Beschäftigung nach Kräften Vorschub zu leisten. Er glaubt eine wesentliche Unterstützung dieser Bestrebungen in der Bildung von Sonderverbänden zu sehen, weil dadurch das Schachleben im engeren Kreise gekräftigt und zugleich der Sinn für den Wert einer Organisation geweckt und ausgebildet wird. Der Zusammenschluß der einzelnen Vereine zu Landes- oder Gauverbänden muß unzweifelhaft dem einzelnen wie der Gesamtheit zugute kommen, ein wirklich ersprießliches Zusammenwirken dürfte aber wohl erst dann in der wünschenswerten Weise empfunden werden und sich geltend machen, wenn die Einzelverbände und der Deutsche Schachbund enge und dauernde Beziehungen zu einander unterhalten.“ Gebhardt lud die Landesverbände zu einem Treffen ein, an dem Vertreter der Landesverbände Niederrhein, Saale, Thüringen, Bayern und Berlin sowie Vertreter von Gegenden ohne organisierten Verband wie Südwestdeutschland, Posen, Sachsen und Österreich teilnahmen.

Auch die publizistischen Aktivitäten des Bundes, früher Stein des Anstosses bei dem in Konkurrenz zur Deutschen Schachzeitung stehenden Deutschen Wochenschach bündelte Gebhardt durch Gründung der Deutschen Schachblätter im Jahre 1909. Gebhardt hatte erfolgreich die zum Ende des Jahrhunderts auf den Versammlungen erkannten und so heftig und kontrovers diskutierten Problempunkte nach und nach geregelt und den DSB reformiert und zukunftsfähig fortentwickelt.

Ein Meilenstein hinsichtlich Teilnehmerzahl und Organisation war dann auch der 1910 in Hamburg auf Einladung von Robinow veranstaltete 17. Kongress des DSB, der auch nicht oder nur unwesentlich durch den Rücktritt des aus Berlin kommenden Schriftführers Dr. Lewitt in seiner Bedeutung gemindert werden konnte. Und 1912 in Breslau war der Deutsche Schachbund die führende Weltmacht im Schach. Zwar trat Berlin am 31.10.1911 erneut aus dem DSB aus, doch sorgte Gebhardt mit ausdauerndem Beharrungsvermögen dafür, daß die Berliner Schachgesellschaft im Oktober 1913 wieder eintrat.

Als der I. Weltkrieg 1914 ausbrach und das Mannheimer Turnier infolgedessen unterbrochen werden musste, umfasste der Deutsche Schachbund mehr als 180 Vereine mit etwa 5000 Mitgliedern, doch der I. Weltkrieg veränderte die Weltlage und zerstörte die überkommene Ordnung. Die Welt der Feuerzangenbowle war endgültig zerstört. Es entbehrt nicht einer gewissen Tragik, daß 1920 auf dem ersten Kongreß des DSB nach dem Krieg in Berlin, Gebhardt nicht mehr kandidieren sollte. Er starb am 27. Mai 1929. Er hatte viel für die Sache des Schachs in Deutschland erreicht und mit beharrlicher Diplomatie nach Außen und bemerkenswerter Reformkraft im Innern den DSB zur stärksten Kraft im Weltschach gemacht.

Wiederaufbau und Zerstörung (1919-1945)

Die Zeit von 1919 bis 1945 kann, auch hier den allgemeinen gesellschaftspolitischen Entwicklungen folgend, wiederum in zwei Zeitabschnitte unterteilt werden, wobei die maßgebliche Zäsur die Machtergreifung der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei unter Adolf Hitler, der im Januar 1933 zum Reichskanzler ernannt wurde, darstellt. Im Zuge der nationalsozialistischen „Gleichschaltung“ wurde der DSB im Jahre 1933 von dem 1931 gegründeten Großdeutschen Schachbund übernommen, in dem ab 1933 der starke Hauptturnierspieler und mehrfache Deutsche Meister Ehrhardt Post (1881-1947) aus Berlin die maßgebende und führende Rolle spielte.

In der hier vorliegenden Darstellung müssen aus Verständnisgründen zwangsläufig auch allgemeinpolitische Zusammenhänge eine breitere Darstellung finden, wobei der Autor insbesondere den Antisemitismusvorwurf an Post, wie er von vielen im schachlichen Schrifttum ohne nähere Prüfung zunächst behauptet worden ist, einer näheren Prüfung unterzieht. Der Autor ist dabei den Argumentationen von Post, wie sie in den Kongressbüchern und Kongressberichten der deutschen Schachpresse aus jener Zeit vorliegen, gefolgt, und hat darin die seinerzeit vorherrschenden ideologischen Anschauungen wiederzufinden versucht, um zu klären, ob Posts Bestrebungen primär völkisch-antisemitisch, oder deutsch-national begründet waren. Der Autor glaubt, mit dieser Methode hinreichend nachgewiesen zu haben, daß Post ein konservativer Deutschnationaler gewesen ist. Dabei wird im Hinblick auf die Geschichte des DSB deutlich, daß die Gegenkräfte zu Post im DSB, solange sie noch zu einer demokratischen Willens- und Entscheidungsbildung in der Lage gewesen waren, und dies dürfte bis April 1933 der Fall gewesen sein, einem völkisch-antisemitischen Organisationsgepräge des DSB ablehnend gegenüber standen.

Die eigentliche Zeit des GSB von 1933-1945, die, ebenso wie die Jahre unmittelbar nach dem I. Weltkrieg 1920-1923 durch eine überwiegende schachliche Mittelmäßigkeit charakterisiert war, da das Fehlen internationaler Konkurrenz sich wie eine bleierne Glocke um das organisierte Schach in Deutschland gelegt hatte und die deshalb als die Zeit der Zerstörung bezeichnet werden kann, findet dann nur eine summarische und abschließende Erwähnung zumal in neuerer Zeit Spezialaufsätze zu diesem Thema erschienen sind.

4.1. Die Zeit des Wiederaufbaus (1919-1932)

4.1.1. Das nationale Element

Bereits in den letzten Jahren vor dem I. Weltkrieg hatte sich durch die Einflussnahme der Berliner Schachgesellschaft unter deren Präsidenten (ab 1911) Ehrhardt Post eine Richtung im DSB Gehör verschafft, die insbesondere das nationale Element betonte. Bereits 1908 in Düsseldorf hatten Post und Deichmann, Köln, beantragt „die Zulassung zu nationalen Turnieren auf Spieler deutscher Nationalität zu beschränken“ und „ferner neben solchen nationalen auch interne Turniere für die Mitglieder des Bundes einzurichten“. Post betonte dabei, daß „das alles natürlich kein Protest gegen die Einrichtung internationaler Turniere durch den D. Schb. sein“ solle, „man wollte nur die Möglichkeit haben, auch einmal unter sich zu sein“. Einen Eklat hatte die Nichtzulassung von Berliner Schachspielern zu den Hauptturnieren des Deutschen Schachbundes im Jahre 1910 in Hamburg verursacht. Die Berliner Spieler Cohn, Moll und Post waren nicht zu den Hauptturnieren zugelassen worden, weil das Turnierkomitee nach Meinung von Post Ausländer vorgezogen hatte. Im Zuge der hierüber zum Ausdruck gekommenen Meinungsverschiedenheiten war Dr. Lewitt (1863-1936), Berlin, von seinem Amt als Schriftführer des DSB zurückgetreten.

Der Vorsitzende der Berliner Schachgesellschaft Ehrhardt Post war zum Vorreiter der Nationalisierung im DSB geworden. Wer war Ehrhardt Post? Posts Persönlichkeit zeigte bereits damals Zeichen eines äußerst machtbewussten und von eigenen Ambitionen und Eitelkeit motivierten Handlungsstrebens, das sich gegen jeden richtete, der sich ihm in den Weg stellte. Post scheute sich 1910 nicht, die Berliner Schachgesellschaft aus dem Berliner Schachbund herauszuführen, damit diese „dadurch die Hände frei für interne Veranstaltungen, die dazu dienten, den Verein bekannt zu machen und Mitglieder zu werben“ bekam. Post vereinigte in seiner Person eine Reihe von Eigenarten und Fähigkeiten, wie persönliches Geltungsbedürfnis und Eitelkeit, nicht unerhebliches schachpraktisches Können, eine große Liebe zum Schach und eine enorme Arbeitskraft, die ihn zu dem wichtigsten Schachfunktionär der zwanziger und dreißiger Jahre in Deutschland werden ließen. Wie kein anderer Schachfunktionär verkörperte der aus kleinen Verhältnissen aufgestiegene Amtsanwalt Ehrhardt Post, wenngleich nicht der „Generation der Sachlichkeit“ der um 1900 geborenen Deutschen angehörend, exakt den Typus des „modernen“ Menschen, der später im Deutschland des Nationalsozialismus so erfolgreich werden sollte. Man kann sich bei der heutigen Lektüre der Berichte auch nicht ganz dem Eindruck entziehen, daß Post ein erhebliches Querulanten-Potential als Störenfried aufwies, und daß dies von seinen Kollegen im Vorstand des DSB auch so empfunden wurde.

Es waren in erster Linie schachbezogene Überlegungen und die starke ausländische Konkurrenz die Ursache dafür gewesen, die die Schachfreunde um Post zu den nationalen Vorstößen veranlassten. Die starken ausländischen Spieler nahmen den einheimischen deutschen Spielern nach Meinung dieser Gruppe die Plätze in den Hauptturnieren weg und heimsten die Preise ein.

Auf dem Kongress des Deutschen Schachbundes in Mannheim 1914 konnte die alte Garde des DSB um den Gymnasialprofessor der Altphilologie Rudolf Gebhardt aus Coburg die Vorstöße der Gruppe um Post zunächst noch abwehren, doch sorgte Post immer wieder für nicht unerhebliche Unruhe durch ständig vorgetragenen Widerspruch, wann immer er die „nationale“ Frage tangiert sah. Als Gebhardt beispielsweise der Generalversammlung mitteilte, er engagiere sich für den DSB auch auf internationaler Ebene und die Versammlung um Ermächtigung bat, in eine später angesetzte Beratung mit den anderen Verbänden treten zu dürfen, widersprach Post sofort, da es „eine Verkürzung der Mitgliederrechte“ bedeute. Post hielt die Gründung einer internationalen Schachorganisation für „überflüssig und den Zielen des Bundes direkt widersprechend“. Immer wieder wird der „nationale“ Kerngehalt der Kontroversen deutlich, beispielsweise wenn Gebhardt sich gegen den Vorwurf verwahren musste, er sei gegen die Annahme von deutschen Spielern zu den Hauptturnieren. Für erhebliche Diskussionen sorgte auch der von John für den Schachverein Anderssen, Breslau, vorgetragene Antrag an die Generalversammlung, 50% der Teilnehmer am Hauptturnier A sollten Reichsdeutsche sein. Kirschner, Leipzig, und Post, Berlin, unterstützten den Antrag, während Gebhardt sich zwar nicht der nationalen Tendenz des Antrages verwehren wollte, gleichzeitig aber das formale Argument einwendete, daß die Vororte, die die Kongresse veranstalteten, das Recht über die Teilnehmernominierung an den Turnieren hätten und nicht der DSB. Im Zuge der weiteren Erörterung wurde auch der Status der Österreicher problematisiert. Schließlich einigte man sich auf eine von Krüger, Hamburg, modifizierte Fassung, die statt „Reichsdeutsche“ „Deutsche“ formulierte. Gebhardt schien 1914 in Mannheim der Resignation nahe gewesen zu sein, denn nur durch gutes Zureden war er dazu zu überreden, noch einmal zu kandidieren. Er wurde schließlich einstimmig auf weitere sechs Jahre wiedergewählt. 2. Vors. wurde Robinow aus Hamburg.

Offen antisemitische Argumentationen spielten zunächst keine Rolle. Die bei der Affäre in Hamburg 1910 beteiligten Cohn und Lewitt und viele Mitglieder der Berliner Schachgesellschaft waren Juden, sodaß sich in den Berichten schon alleine deshalb für eine antisemitische Grundhaltung Posts keine Hinweise finden lassen. Andererseits waren antisemitische Strömungen im wilhelminischen Kaiserreich latent vorhanden und in den 1880er Jahren hatten sich auch erstmals politische Parteien, die den Antisemitismus als politische Propaganda in einer zunehmend nationalistisch eingestellten europäischen Öffentlichkeit zum Stimmenfang zu nutzen versuchten, formiert. Zwar konnte dieser organisierte Antisemitismus in Deutschland keinen politischen Einfluß erlangen, doch mögen die durch ihn eingeführten Schlagworte gleichwohl das kulturelle Klima Deutschlands in nicht zu unterschätzender Weise beeinflusst und den Keim für viele spätere Entwicklungen in Deutschland gelegt haben. Das galt auch und ganz besonders für das organisierte Schach in Deutschland und Österreich-Ungarn. Michael Ehn und Ernst Strouhal haben für Wien deutlich machen können, daß das Schachleben Wiens durch die Immigration einer großen Zahl von Ostjuden entscheidend bereichert und belebt worden war. Nach der Ermordung des Zaren Alexander II. im Jahre 1881 hatten die in weiten Teilen Russlands einsetzenden Pogrome zu einer Fluchtbewegung von mehr als zwei Millionen Juden nach Westen geführt, wovon viele nach Wien und Berlin kamen. Die Zahl der in Wien lebenden Juden hatte sich seit 1880 nahezu verdoppelt und betrug um 1900 mehr als 147.000 Menschen. Gleiches kann von Berlin gesagt werden, denn dort betrug die Zahl der Juden 36.000 im Jahre 1871; im Jahre 1895 war sie auf 94.000 und 1910 auf 142.000 angestiegen. Das Bild des fremdartigen, einen Kaftan tragenden Ostjuden gehörte zu den Straßenbildern von Wien und Berlin. Die zunächst dumpfe und irrational ablehnende Haltung gegenüber der Fremdartigkeit der Ostjuden auch bei den etablierten Juden, gepaart mit zivilisationsfeindlichen und antidemokratischen Ideen der Zeit verband sich insbesondere nach dem verlorenen Weltkrieg mit Antimodernität und nationalistischem Berufungswahn und leistete damit einem Antisemitismus rassistischer Ausprägung erheblichen Vorschub. Dennoch, und dies wird noch darzulegen sein, konnten sich diese Strömungen im DSB zunächst nicht, wie im übrigen auch nicht in der Weimarer Republik, durchsetzen.

Nun war der Nationalismus eine gesamteuropäische Erscheinung der damaligen Zeit. Tatsächlich wurde wie andernorts in der Weimarer Republik auch im DSB die Diskussion um die nationale Frage in aller Härte geführt. Dabei führten materielle Not im Inneren sowie Bedrohung und Isolation im Äußeren zu einer immer stärkeren Radikalisierung der Anschauungen. Die in intellektuellen und studentischen Kreisen sich ausbildende völkische Anschauung schloß einerseits die deutschstämmigen Minderheiten außerhalb der Staatsgrenzen Deutschlands und die Menschen in Österreich ein und unterschied sich so von einer staatsbürgerlichen Anschauung. Nach völkischer Lehre konnte ein Jude beispielsweise niemals, auch nicht durch Taufe, Deutscher werden. In einem völkischen Deutschland war kein Platz für andere Ethnien.

Im Zuge der vorbehaltlosen Unterstützung des Deutschen Reiches für die Habsburger Monarchie in Ungarn-Österreich bezüglich seiner Politik gegenüber Serbien erklärte Deutschland am 1. August Russland und am 3. August auch Frankreich den Krieg. Der I. Weltkrieg raste über Europa und das Schachleben kam zum erliegen. Das Turnier des DSB in Mannheim wurde abgebrochen und die ausländischen Teilnehmer interniert. Noch einmal, und zwar am 14. August 1914 verwahrte sich Gebhardt in einem im Deutschen Wochenschach veröffentlichten Brief gegen die Behauptung, er sei nicht „Deutsch genug“ und rief zu positiver Mitarbeit im DSB nach dem Krieg auf, wenn „unsere Heere mit dem Eichenlaub des Siegers geschmückt zu uns heimkehren“. Doch die deutschen Soldaten kamen nicht mit dem Eichenlaub des Sieges, sondern als geschlagene Männer zurück in ein Deutsches Reich dessen Führung, der Kaiser, abgetreten war. In der Folgezeit lasteten die Bürden des verlorenen Weltkrieges und die demütigenden Bedingungen des von Frankreich diktierten Vertrages von Versailles schwer auf Deutschland. Insbesondere in den Gegenden des Reiches, in denen große, genuin deutsch besiedelte Gebiete, wie Elsass-Lothringen, Eupen und Malmedy im Westen und Pommern und Teile Schlesiens im Osten verlustig gegangen waren und in der Gegend des Rheinlandes, in der die französische Besatzung zu tiefer Bedrückung führte, empfand man den Verlust des Krieges als demütigend.

Ehrhardt Post Geschäftsführer GSB, Berlin 1928

Post, Jahrgang 1881, war während des gesamten Krieges in Berlin gewesen und hatte den Rest des Berliner Schachlebens am Leben zu halten versucht. Er war sicherlich wie viele im Deutschen Reich tief erschüttert und enttäuscht, zumal die Niederlage des deutschen Heeres überraschend gekommen war; zum Einen, weil der Krieg weitab von der deutschen Bevölkerung getobt hatte, zum Anderen, weil noch im Sommer 1918 die von Hindenburg und Ludendorff forcierte Westoffensive einen baldigen Sieg versprochen hatte.

Im Mai 1920 traf sich der DSB auf Einladung der von Post geführten Berliner Schachgesellschaft und der Freien Vereinigung der Groß-Berliner Schach-Vereine zum 20. Kongress in Berlin. Die nationale Frage hatte durch den Verlust des Krieges an Aktualität gewonnen. Es fanden vier Hauptturniere statt. Ein Meisterturnier kam nicht zur Austragung. Post hatte in der Einladung zum Kongress die folgende Formulierung gewählt: „Zur Teilnahme an den Turnieren sind nur Mitglieder des Deutschen Schachbundes und der Freien Vereinigung der Groß-Berliner Schachvereine berechtigt, die deutscher Geburt oder Nationalität sind; Angehörige fremder Staaten können zugelassen werden, wenn sie deutschen Stammes sind.“ 19 Gönner und Einzelmitglieder, 66 Vereine mit 3664 Stimmen waren in Berlin anwesend, als der Schriftführer Albert Hild mitteilte, daß der DSB fünf Ehrenmitglieder, 24 Gönner, 100 Einzelmitglieder und 200 Vereine mit etwa 7500 Mitgliedern habe. Es wurde der im Weltkrieg Gefallenen Moll, E. Cohn und Köhnlein gedacht. Schlechter, Schallopp, Süchting, Barnes (aus Frankfurt), Crüsemann, Julius Steinitz, Pastor Koch und C. Schultz waren gestorben.

In seiner Rede auf dem Kongress legte Post sein Programm dar und formulierte: „Wir leben in einer Zeit, wo alles durcheinanderwirbelt. …. Solange das feindliche Ausland, das nach unerhörten Leistungen ein zu Tode ermattetes Heer und Volk niedergeworfen hat, solange die sogenannten Siegerstaaten uns verfemen und ausschließen, so lange sollen die deutschen Schachspieler es für unter ihrer Würde halten, diese Ausländer zu Gast zu haben … Wir wollen nicht vergessen, daß, als unser Haus an allen Ecken und Enden zu brennen anfing, diejenigen, die bei uns zu Gaste gewesen sind, nichts Schnelleres tun konnten, als ihre Gastgeber zu beschimpfen und zu verleumden. Und damit ist uns recht geschehen. Wir haben es tausendfältig verdient durch unsere Servilität, durch den Mangel an nationalem Stolz und Selbstbewußtsein. Wir Deutsche waren auf den Kongressen nur ausnahmsweise geduldet; es brauchte nur einer vom Auslande, womöglich mit exotischem Namen zu kommen, und alle Türen öffneten sich ihm, mochten dabei auch gute deutsche Spieler auf die Straße gesetzt werden… .“ Er führte weiter aus, daß das (negativ konnotierte) „Schach-Artistentum“ sich dann ausbilde, wenn Spielhöllen und Kaffeehäuser sich des Schachs annähmen. Er spreche „nicht gegen die Berufsspieler, der Bund kann ihre Tätigkeit schon unterstützen, aber die Berufsspieler müssen eine Organisation schaffen, die für Reinheit in den eigenen Reihen sorgt, und es wäre für sie ein Vorteil, wenn sie sich einer starken Organisation wie dem Deutschen Schachbund anschlössen.“ Post wollte die Geldpreise abschaffen und rief in die Versammlung des DSB hinein: „Wir wollen den Zustand herbeiführen, daß die Ehre demjenigen zufällt, der einen Erfolg errungen hat, das Geld denen, die es brauchen. (Bravo!) Alle diese Reformen wird man nur durchführen können, wenn sie eine starke, geschlossene und gesunde Organisation des Deutschen Schachbundes hinter sich haben. Dazu gehört ein stärkerer Einfluß der Vereine und Verbände. Wir wollen die Organisation des Bundes von Grund geändert haben.“ Nicht zu unrecht forderte er die Abschaffung der Einzelmitgliedschaft und wies auf den unlogischen Aufbau der Satzung hin, die „… den Begriff Vorstand“ nicht kenne, obwohl dieser Vollmachten erteile.

Gebhardt stimmte in seiner Antwort den Ausführungen von Post zu. Keiner lasse sich in seinem Deutschtum wohl übertreffen und wies auf das historische Moment hin, in dem Juristen um Landgerichtsrat Schwan und Amtsgerichtsrat Friedländer die Satzung des DSB um die Jahrhundertwende erarbeitet hatten, damit sie für das Registergericht passte. Er lehnte die ihm von Post angetragene Wiederwahl mit den Worten ab „meine Zeit ist abgelaufen“ und schlug stattdessen Robinow zum Nachfolger vor, der mit 2976 zu 289 Stimmen, die auf Post fielen, gewählt wurde. Post wurde 2. Vorsitzender. Auf Vorschlag von Post wurde Mieses (1865-1954) „als Vertreter der international gerichteten Meister“ in die Kommission gewählt, die sich der Neufassung der Statuten widmen sollte. Diese neue DSB-Satzung sollte nach dem Plan von Post auf dem Folgekongress 1921 in Hamburg verabschiedet werden.

Walter Robinow, fünfter Präsident des DSB

Am 30. September 1920 trafen sich die Schachfreunde zu einem Ausflug nach Tegel, wo dem Zug der neuen Zeit gehorchend, erstmals in der Geschichte des DSB ein Blitzturnier veranstaltet wurde. Nach der ersten Runde unterbrach Post den Schachkampf, um „zur Freude der zahlreichen jungen Damen sämtliche Turnierteilnehmer nach dem Tanzsaal“ zu rufen. Und so wechselten Tanz- und Schachrunden miteinander ab. Nicht ohne Stolz vermeldete Post in seiner Rede auf der Abschlußfeier, daß noch nie so viele deutsche Teilnehmer mitgespielt hatten. 60 Deutsche hatten auf den Hauptturnieren gespielt, währenddessen es in Mannheim noch im Hauptturnier A 5 von 18 und in Turnier B 31 von 49 gewesen waren. Bezeichnender Weise wurden vier Berliner Sieger in den Hauptturnieren (Sämisch, Zander, Pahl und Ahues).

Es scheint, als ob Anfang der zwanziger Jahre der nationale und möglicherweise auch der völkische Gedanke in seiner rassistischen Ausprägung im DSB die Mehrheitsmeinung werden wollte und um die Meinungsführerschaft kämpfte. Vieles spricht dafür, daß beispielsweise Ranneforth (1864-1945) solche Anschauungen im Kopf hatte, als er in dem von ihm herausgegebenen Deutschen Wochenschach schrieb: „In der heutigen Zeit, wo das Deutschtum sich in allen an die Grenzstaaten abgetretenen Bezirken in schwerer Notlage befindet, wäre nichts natürlicher, als daß sich dem Deutschen Schachbund auch die dort bestehenden oder entstehenden Schachvereine anschlössen, wie auch die deutschen Burschenschaften der ehemaligen österreichisch-ungarischen Monarchie neuerdings in die deutschen Burschenschaften eingegliedert worden sind“. Die Deutschen im Baltenland, Polen, Tschechoslowakei, Deutsch-Österreich und Eupen-Malmedy sollten einen eigenen Bund gründen und dann in ein Kartellverhältnis mit dem DSB treten. Und es scheint auch kein Zufall gewesen zu sein, daß der jüdische Schachverleger Bernhard Kagan im Deutschen Wochenschach als „Kriegsgewinner“ bezeichnet wurde.

Doch Ranneforth war nicht im Vorstand des DSB und es gab Gegenwehr. Formulierte die eine Seite die These, daß eine Nationalisierung das deutsche Schach fördere, setzte die Gegenseite dem entgegen, daß eine Nationalisierung zur Versumpfung des deutschen Schachs führe. Es ist dabei sicherlich kein Zufall, daß die Wortführer der Gegenseite meist Juden waren, was gleichzeitig die Anschauung der „Völkischen“ in dialektischer Weise hätte bestätigen können, wenn es sie im DSB denn je gegeben haben sollte. Auch in der allgemeinen tagespolitischen Auseinandersetzung wurde Internationalismus ja gleichgesetzt mit Juden und Völkerbund, der das deutsche Volk unterdrücken und knechten wollte.

Beispielhaft mag die Kontroverse sein, die sich der des Griechischen und des Lateinischen mächtige Jacques Mieses aus Leipzig mit Post im Jahre 1921 lieferte. Mieses war Jude und von 1919 bis 1921 Herausgeber der Deutschen Schachzeitung. Er publizierte 1921 im Märzheft der DSZ einen Artikel, in dem er Post unter Bezugnahme auf dessen Anträge auf dem Berliner Kongress des DSB einer „völkischen“ Gesinnung bezichtigte und den Vorschlag von Post, nur noch nationale Turniere veranstalten zu wollen, kritisierte. Post erwirkte eine Berichtigung nach dem Pressegesetz, die Mieses im Maiheft der DSZ 1921 veröffentlichen mußte. Die Schärfe der Auseinandersetzung nahm zu, als Mieses mit spitzer Feder auf die berufliche Stellung Posts einging: „Sie sind ja, Herr Post, wenn auch nicht Jurist, so doch Amtsanwalt…“. und Post versuchte, Mieses bei dessen Verleger de Gruyter zu desavouieren.

Post wies aber in klaren Worten im Deutschen Wochenschach die Unterstellung einer völkischen Gesinnung zurück: „Aber Hr. Mieses hätte nur so viel Objektivität zu besitzen brauchen, zu meinen wörtlich wiedergegebenenen Ausführungen gerade noch den nächsten Satz hinzuzufügen, der da lautet: ‚Das muß aufhören und kann aufhören, ohne daß wir der Internationalität des Schachs Abbruch tun‘. Dann ließ sich freilich die ’nationalistische‘ oder ‚völkische‘ Tendenz unserer Anträge nicht behaupten, und dann konnte Hr. Mieses seinen Lesern auch nicht den Ruhm vorspiegeln, mich widerlegt und überzeugt zu haben.“

Die Kontroverse zwischen Mieses und Post zeigt, mit welcher persönlichen Härte die Auseinandersetzung um die nationale Ausrichtung des DSB Anfang der zwanziger Jahre publizistisch und konkret verbandsintern geführt wurde. Aus heutiger Sicht kann man Post nicht ohne weiteres einen völkischen und damit antisemitischen Hintergrund zuschreiben. Es sind von Post aus dieser Zeit keine antisemitischen Äußerungen bekannt geworden und zweifellos war seine Position so gefestigt, daß er antisemitisches Gedankengut, wenn er es denn für richtig gehalten hätte, auch formuliert haben würde. Im Gegenteil: Post hat in seiner Rede vor der Bundesversammlung in Berlin 1921 die deutschen Meister Lasker, Tarrasch und Mieses ausdrücklich gelobt. Und auch auf einer Versammlung der Freien Vereinigung der Groß-Berliner Schachvereine sagte Post u.a.: „Am leichtesten fällt natürlich der Angriff auf die Forderung, daß der nationale Charakter des Bundes gesichert werde, indem man dem ’national‘ einen nationalistischen und völkischen Sinn unterlegt. Was wir wollen, ist, daß wir in Deutschland dasselbe Recht haben wollen, das alle andern Länder ohne Ausnahme als selbstverständlich für sich besitzen: daß wir auf unseren Kongressen unsere deutschen Angelegenheiten unter uns Deutschen verhandeln, daß unsere nationalen Würden und Ehren nur Deutschen zuteil werden, im Hauptturnier wie im Meisterturnier.“ und Gleichwohl aber erregte er mit seinen deutschnationalen Initiativen das Misstrauen insbesondere der Juden unter den Schachspielern wie Mieses, Lasker, Spielmann, Tenner, Kagan und Tarrasch.

Insgesamt konnte die nationale Linie von Post im DSB nicht mehr als einen Teilerfolg erzielen, auch wenn Post das Gegenteil zunächst nach dem Kongress in Berlin 1920 geglaubt haben mag, denn Robinow (1867-1938) und die „alte Garde“ des DSB verstanden es in der Folgezeit, die Berliner bzw. Post’schen Vorstellungen zunächst zu protrahieren, dann zu nivellieren und schließlich dort, wo eine Verabschiedung nicht zu verhindern gewesen war, rückgängig zu machen. Jedenfalls musste Zander 1927 schreiben: „Im Deutschen Schachbunde ist im wesentlichen die Reform von 1921 wieder rückgängig gemacht worden“. Gesunder Menschenverstand, klare Befolgung rechtsstaatlicher Prinzipien und traditionsbewusstes, gelegentlich freilich in seiner Naivität gegenüber dem Gegner auch hilflos anmutendes Harmoniebedürfnis sollten im DSB schließlich die Oberhand behalten.

Die vom Berliner Kongreß eingesetzte Kommission hatte Vorschläge erarbeitet, die in Hamburg 1921 verabschiedet wurden. Darin hieß es in der Turnierordnung: „Die Turniere sind nur Mitgliedern des Bundes offen, die deutscher Geburt oder Staatsangehörigkeit sind; Angehörige fremder Staaten werden nur zugelassen, wenn sie deutschen Stammes sind“. Die Kommission lehnte eine Änderung der Satzung unter Hinweis auf die wechselvollen Zeiten ab. Damit hatte der DSB nicht nur die „Reform“ der Satzung des DSB im Postschen Sinne abgelehnt, sondern auch einer auf völkisch-antisemitischer Grundlage beruhenden Änderung seiner Turnierordnung eine klare Absage erteilt.

Post siegte in Hamburg im Meisterturnier und war damit Deutscher Meister. Doch war das Turnier nicht mehr so stark wie noch vor dem Krieg gewesen und Spielmann wies mit Recht darauf hin, daß in Hamburg alleine sieben Meister aus Berlin (Brinckmann, Gregory, Schlage, Post, Ahues, John, Sämisch und Zander) , zwei aus Hamburg (Krüger und Wagner) und einer jeweils aus Witten (Schories) und Bremen (Carls) kamen, was den Berichterstatter der Vossischen Zeitung dazu veranlasste zu fragen „War das Hamburger Turnier stark?

Auch 1922 in Bad Oeynhausen wurde Post Sieger im Meisterturnier. Dem DSB gehörten 230 Vereine mit etwa 9-10000 Mitgliedern, 40 Gönner und 42 Einzelmitglieder an. Als Post mit seinen Vorstellungen nicht zum Zuge kam, machte er das, was er in der Geschichte des DSB oft getan hat: Er trat gegen Ende des Jahres 1922 von seinem Amt als 2. Vorsitzender des DSB zurück.

Im Juli/August 1923 fand der 23. Kongress des DSB in Frankfurt/M. in einer Zeit galoppierender Inflation und in unmittelbarer Nähe der französischen Besatzungszone (Wiesbaden) statt. Der Bund hatte 18-20000 Mitglieder, 318 Gönner und alle Landesverbände waren Mitglied des Bundes, wobei als letzter Verband der Bayrische hinzugetreten war. Auch die Schachspieler aus Österreich und den besetzten Gebieten waren anwesend. Gebhardt, der Bürgermeister seiner Heimatstadt Coburg geworden war, konnte nicht anwesend sein, weil er in Litauen auf einer Reise unterwegs war. Noch einmal sorgte Post für Unruhe als er die Einsetzung eines Spielausschusses zwecks Trennung der Spiel- von der Verwaltungstätigkeit beantragte. Dieser Antrag traf jedoch auf heftigen Widerstand seitens der anderen Vorstandsmitglieder Robinow, Römmig und Hild sowie der normalen Mitglieder Deichmann und Ripke. Der Antrag wurde deutlich mit 8006 gegen 2100 Stimmen abgelehnt. Bei der Wahl zum Vorstand erhob Post zunächst Einspruch gegen die Wiederwahl durch Zuruf von Römmig, zog diesen dann aber zurück.

Frankfurt 1923 markiert den Wendepunkt in der Entwicklung des DSB, an dem die unablässigen Versuche Posts, den DSB mit Hilfe der Schachfreunde in Brandenburg und Berlin und Umgebung unter Instrumentalisierung der in der deutschen Bevölkerung als Folge des Krieges virulenten nationalen Frage zu dominieren, eine deutliche und lang andauernde Absage erhielten. Post war in der Zukunft auf Bundesebene weitgehend isoliert und nicht mehr wirkungsmächtig. Zwar konnte er im Meisterturnier in Frankfurt noch einmal Zweiter jedoch mit 2 Punkten Abstand hinter dem Wiener Großmeister Ernst Grünfeld werden, doch sollte die Zukunft zeigen, daß auch seine schachpraktische Blütezeit zu Ende war.

4.1.2. Die goldenen zwanziger Jahre

Das Jahr 1924 brachte keinen Kongress des DSB. Lasker (1868-1941) kehrte nach seinem Turniersieg in New York nach Berlin zurück und erhielt einen triumphalen Empfang. Post hielt am 2.7.1924 im Bürgersaal des Rathauses, dem Festsaal der Stadt Berlin eine Ansprache. Dann ergriff Robinow das Wort. Die Veranstaltung machte deutlich wie tief die Schmach der Niederlage im I. Weltkrieg noch immer saß und zeigt in Abweichung weitverbreiteter Vorstellungen, daß auch der „kosmopolitische“ Lasker sich zu seinem Deutschsein bekannte.

1925 war in der Weimarer Republik durch Schaffung der Rentenmark (1923) die Inflation eingedämmt worden und durch die realistisch orientierte Außenpolitik Gustav Stresemanns eine gewisse Beruhigung auch in der nationalen Frage eingetreten. Es ist bezeichnend, daß die Konsolidierung der ökonomischen Verhältnisse in der Weimarer Republik nahezu zeitgleich mit dem Verschwinden Posts von der nationalen Schachbühne einhergeht. Der 24. Kongress des DSB 1925 in Breslau war der erste internationale Kongress nach dem Krieg. Auf dem Photo des Meisterturniers in Bad Oeynhausen 1922 sind keine Juden abgebildet; in Breslau 1925 finden sich neun Schachspieler jüdischer Abstammung (Moritz, Kmoch, Mendelsohn, Epstein, Rubinstein, Nimzowitsch, Réti, Tarrasch und Robinow). Die Zeit, die später als die goldenen zwanziger Jahre bezeichnet wurde, hatte begonnen. Walter Robinow berichtete in der Hauptversammlung: „Der Brandenburgische Schachverband ist im Nov. 1923 mit sämtlichen Unterverbänden aus dem Bunde ausgetreten“ und die Versammlung reagierte mit Beifall als Robinow sagte: “ … daß der D. Schachbund ein für allemal mit Post nicht zu verhandeln beabsichtigte.“ Blümich stellte den Antrag, die Geldpreise wieder einzuführen. Im Damenturnier wurde Frau Dr. Hanna Bernhagen aus Stockholm erste, zweite wurde Frau Kalmar-Wolf und im Meisterturnier gewann der Russe Efim Bogoljubow zum ersten Mal die deutsche Meisterschaft. Er dankte „in fließender deutscher Rede“, daß man ein internationales Turnier veranstaltet habe. Robinow berichtete des weiteren von Gesprächen mit der FIDE (Vors. Rueb) in Zürich, wo es eine herzliche Aufnahme auch seitens der Franzosen gegeben habe.

Breslau 1925

Obere Reihe: Schreier, Wagner, Moritz, Sämisch, Römmig, Becker, Kmoch, Walter. Mittlere Reihe: Mendelsohn, Blümich, Epstein, Krüger, Grünfeld, v. Schweinichen, Rubinstein, Kramer. Sitzend: Nimzowitsch, Réti, v. Gottschall, Bogoljubow, Tarrasch, Löw, Robinow, Seger, Tietz

Die Revision der Postschen Reformen im Sinne einer „Re-Internationalisierung“ der DSB-Kongresse wurde auf dem 50 jährigen Jubiläumskongreß in Magdeburg 1927 fortgesetzt, ohne dabei jedoch die nationalen Belange gänzlich unberücksichtigt zu lassen. Magdeburg 1927 war der letzte deutsche Schachkongreß in der Geschichte des DSB, der Anspruch erheben kann in die großartige Reihe seiner Vorgänger eingegliedert zu werden. Die Vorsitzenden von insgesamt 14 von 26 bestehenden Landesverbänden trafen sich vor der Bundesversammlung. Sie erhielten das Recht Mitglieder in den Bund aufzunehmen, was vorher nur durch den Vorstand des DSB möglich gewesen war. Hild hatte eine lesenswerte Festschrift zum 50 jährigen Bestehen des DSB verfasst. Alexander Fritz und Fritz Riemann waren als letzte noch lebende Teilnehmer der Anderssen-Feier in Leipzig 1877 anwesend und wurden, als sie gemeinsam in die Versammlungshalle eintraten, stürmisch begrüßt. Schließlich wurden auch wieder Geldpreise eingeführt, nachdem eine Umfrage ergeben hatte, daß dies für notwendig erachtet wurde. Insgesamt dauerte die Sitzung lediglich drei Stunden, so daß von einiger Harmonie ausgegangen werden kann. Am Festmahl waren u.a. Emanuel Lasker und Viktor Tietz, Karlsbad, anwesend. Letzterer überbrachte die Grüße des deutschen Schachverbandes der Tschechoslowakei als „eines Kindes, dem der Zutritt zum deutschen Elternhause verwehrt sei“, worauf das Protokoll „tiefe Bewegung verzeichnet“.

Spielmann erhielt den von der Lufthansa (!) gestifteten Freiflug innerhalb Deutschlands für die schönste Partie zugesprochen und konnte noch einmal in Freiheit fliegen, bevor es Nacht wurde in Deutschland.

Der im Jahre 1929 in Duisburg bereits in wirtschaftlichen Schwierigkeiten stattfindende 26. Kongreß des DSB war ein nationaler, vom rheinisch-westfälischen Schachverband organisierter Kongreß. Der amtierende Deutsche Meister Spielmann wurde infolge zahlreicher anderer Bewerbungen nicht berücksichtigt, wogegen er vergeblich Protest erhob. Robinow war durch eine schwere Krankheit an’s Bett gefesselt und wurde durch den 2. Vorsitzenden Höhnen und den Schriftführer Hild vertreten. Der DSB zählte etwa 11000 Mitglieder und auf dem Festbankett erschienen 550 Personen. Der Jude Wilhelm Orbach aus Offenbach/M. nahm am Meisterturnier teil und wurde 11. (von 14). Ein Kongressbuch wurde nicht erstellt. Dem Bericht in der Deutschen Schachzeitung ist zu entnehmen, daß der Brandenburgische Schachverband im Jahre 1928 dem DSB wieder beigetreten war. Wegweisende Änderungen bzw. Beschlüsse erfolgten in Duisburg nicht.

1930 holte Robinow die Schach-Olympiade der FIDE nach Hamburg. Die Hamburger feierten gleichzeitig ihr 100jähriges Vereinsjubiläum und hatten vom Senat der Stadt Hamburg einen Zuschuss von 20000 Mark erhalten. Die Olympiade in Hamburg 1930 und der deutsche Schachkongreß in Hamburg 1910 werden im allgemeinen als herausragende Verdienste von Walter Robinow gewürdigt. Bedingt auch durch die Krankheit Robinows und die finanziellen Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise traf man sich dann erst wieder im März 1932 in Bad Ems. Posts Vorstellungen zur Neuordnung der Aufstiegsturniere und der Heranziehung des Nachwuchses fanden Zustimmung und er wurde deshalb in eine dreiköpfige Kommission gewählt, die sich der Ausarbeitung der näheren Richtlinien widmen sollte. Er scheiterte aber bei der Kandidatur zum Schriftführer mit 3723 zu 5096 Stimmen gegen den Gegenkandidaten Dr. Kiok, Magdeburg. Robinow wurde einstimmig zum Präsidenten wiedergewählt.

4.2. Die Zeit der Zerstörung (1933-1945)

Im Hinblick auf die Vertreibung und Ermordung der jüdischen Schachspieler und den tausendfachen Soldatentod deutscher Schachspieler muß sehr wohl von einer Zerstörung gesprochen werden. Die Verwüstungen nicht nur des deutschen Schachlebens im Deutschen Reich und Österreich-Ungarn waren nicht schicksalhaft über die Schachspieler gekommen. Sie hätten verhindert werden können, wenn die Sozialdemokratie mit den bürgerlichen Parteien in Deutschland zusammengearbeitet hätte und dafür im Bürgertum andererseits auch hinreichend starke Partner vorhanden gewesen wären.

4.2.1. Der Großdeutsche Schachbund

Die einsetzende Deflation führte zu einer Massenarbeitslosigkeit in Deutschland von der im Jahre 1932 mehr als fünf Millionen Menschen betroffen waren. Der DSB konnte aus eigenen Mitteln keinen Kongreß mehr organisieren. Die goldenen zwanziger Jahre hatten gerade einmal fünf oder sechs Jahre gedauert. Die Weimarer Republik scheiterte. Am 30. Januar 1933 wurde Hitler zum Reichskanzler ernannt. Binnen drei Monate beseitigte er alle verfassungsmäßigen und rechtlichen Hindernisse, die seinem totalitären Machtanspruch im Wege standen. Deutschland starb.

Der DSB hörte am 23. April 1933 auf zu existieren bzw. wurde nach einem kurzen Aufbäumen vom Großdeutschen Schachbund (GSB) am 9.7.1933 anläßlich einer gemeinsamen Hauptversammlung in Bad Pyrmont mehr oder weniger zwangsweise übernommen. Der GSB war am 13. Dezember 1931 mit Sitz in Berlin gegründet worden. In ihm konnten satzungsgemäß nur Deutsche arischer Abstammung Mitglied sein. Die Machtübernahme im DSB geschah damit zwangsweise von außen im Sinne der alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens in Deutschland ergreifenden Gleichschaltungspolitik der neuen nationalsozialistischen Regierung. Der Widerstand gegen die Übernahme war erheblich, denn mehr als 60% der führenden Schachfunktionäre musste im Zuge der Gleichschaltung ausgewechselt werden. Robinow hatte sein Amt bereits Anfang April niedergelegt und der politisch missliebige Regierungspräsident Leopold August Höhnen war ebenfalls bereits vor der Versammlung in Bad Pyrmont 1933 zurückgetreten.

Ehrhardt Post wurde Stellvertreter von Otto Zander (1886-1938), der die Leitung des GSB übernahm. Zander hielt seine bekannte Rede in Bad Pyrmont, in der er die Juden Deutschlands vom organisierten Spielbetrieb ausschloß: „Juden können wir zu unserer Arbeit nicht brauchen, sie haben aus den Vereinen zu verschwinden, denn sie waren in Deutschland die Erfinder und Förderer des Klassenkampfes und hetzen jetzt die anderen Völker mit ihrer Lügenpropaganda gegen unser Vaterland. Ich will gestatten, daß Mitglieder, die unter ihren Großeltern drei Arier und nur einen Juden haben, in den Vereinen bleiben, sofern sie deutsch gesonnen sind. Und nun arbeiten, nichts als arbeiten! Bundesleiter Otto Zander“.

Im ganzen Deutschen Reich wurden die jüdischen Schachspieler vom organisierten Schach ausgeschlossen. Auch der Hessenmeister des Jahres 1925 Wilhelm Orbach aus Offenbach/M. wurde aus seinem Verein der Schachgesellschaft 1880 Offenbach/M. ausgeschlossen. Noch am 1.10.1932 hatte sich im Vereinslokal „Meister Orbach an der regen Besprechung beteiligt und führte einige typische Stellungen vor“.

Es ist schwer verstehbar, wie die rassistische Ausgrenzung der jüdischen Schachspieler selbst bei einem Spiel stattfinden konnte, das sicherlich keine sehr große Bedeutung für die Nationalsozialisten hatte. Die Menschen hätten sich ohne weiteres und ohne größere Repressalien zu befürchten aus dem organisierten Schach zurückziehen können. Es gab keinen Zwang Schach zu spielen. Dies galt für das private Schachspiel mit Amateurstatus mehr als für jede andere Tätigkeit im öffentlichen oder beruflichen Bereich. Als die Offenbacher im Oktober 1938 ihres bis dahin genutzten Lokales kurzfristig verlustig gingen und sie in der kurzen, verbliebenen Zeit nicht lange wählen konnten, zogen sie in’s Kaiser-Café, wo sie eine gute Aufnahme fanden. Doch weil „immer noch einige Juden im Kaiser-Café verkehren“, waren verschiedene Mitglieder mit dem neuen Lokal nicht einverstanden“.

Briefkopf des GSB 1939

Ehrhardt Post jedoch schien am Ziel seiner Wünsche. Zunächst war er Stellvertreter des Bundesleiters Zander, dann, als in der Nachfolge von Zander Franz Moraller Bundesleiter geworden war, Geschäftsführer des GSB. Er war der unumschränkte Herrscher im deutschen Schach. Das machen auch die Aussagen von Alexander Aljechin in einem Interview in der spanischen Zeitschrift El Alcázar vom 3. September 1941 deutlich.

1935 unterschrieb er die Schreiben des GSB noch „In Vertretung“, 1939 galt seine Unterschrift alleine.

Post hat die Verwüstungen im europäischen Schach mit zu verantworten, daran besteht kein Zweifel, doch war er nach des Autors Überzeugung kein überzeugter Nationalsozialist der ersten Stunde. In diesem Zusammenhang kann Erwähnung finden, daß Kurt Rattmann Senior dem Autor Ende der siebziger Jahre persönlich sagte, daß Post „kein Nazi gewesen sei“, sondern den GSB vor der Organisation KdF geschützt und abgeschirmt habe. Und auch Lehmann, Berlin, bezeichnete Post als „machtbewußten Konservativen“. Lehmann und Rattmann kannten Post noch persönlich. Auch Lachaga schrieb, daß Post nicht der Partei angehört hatte. Lachaga hatte seine Informationen von Albert Becker und der musste es wissen. Und die Tatsache, daß Post formal und protokollarisch immer nur der zweite Mann innerhalb des GSB war und hohe nationalsozialistische Funktionsträger zum Bundesleiter des GSB ernannt worden sind, spricht ebenfalls dafür, daß er nicht der Partei angehörte, denn nur verdiente und zuverlässige Parteimitglieder konnten in die höchsten Führungspositionen innerhalb des nationalsozialistischen Staates berufen werden.

Aufschlussreich und interessant sind auch die Aussagen, die von Paul Michel überliefert sind. „Zahlreiche Schachturniere jener Jahre verdankt man der rastlosen Energie eines Mannes, Post. Als vor nunmehr sechzehn Jahren der Schreiber dieser Zeilen anläßlich einer Artikelreihe in den Deutschen Schachblättern – ‚Die Skandinavische Partie‘ – aufgefordert wurde, die jüdischen Namen zu unterdrücken und er erwiderte, daß dann auch die der Nichtjuden fortzubleiben hätten, da erklärte Post auf der Stelle sein Einverständnis. Als man im November 1938 (Reichskristallnacht, Anm. HB) von der spontanen Volkswut sprach, da sagte Post spöttisch verächtlich: „Die Volkswut, die früh drei Uhr wachgeworden ist.“ Wir könnten diese Beispiele vermehren, doch: sapientia sat. Es wird nicht gelingen diesen Mann für immer totzumachen, in dankbaren Herzen lebt er weiter. Denen aber, die sich in blindwütigem Haß zur knirschenden Verwünschung des Grafen von Savern versteigen: Den werft mir in die Hölle, daß er zu Asche gleich vergehe und ihn mein Aug‘ nicht weiter sehe! – denen rufen wir zu: Richtet euren Haß an die Adresse derer, die ihn verdienen, denen wir es verdanken, daß unsere Lieben freudlos dahingebleicht, unser vertrautes Land, unsere Städte zerfetzt sind! – In sonst erbarmungslosen Tagen, Wochen, Jahren gab es für uns Schachmeister Stunden des Trostes, von Freude, Unbekümmertheit, die wir großenteils Post verdankten und mit uns die vielen Namenlosen, denen das Nachspielen Hochgenuß verschafft, ein Sonnenstrahl ist in des Daseins ödem Grau. In diesem Sinne wage sich dieses Buch ans Licht!“ Bemerkenswert ist dabei auch, daß das Buch von Michel „Frau Salome Reischer, Meisterin von Österreich, der gütigen Helferin in bitteren Jahren in Dankbarkeit zugeeignet“ ist. Reischer war Jüdin und emigrierte nach Palästina und später in die USA. Sie kehrte nach Restitution ihres vorher arisierten Familienbesitzes nach Wien zurück und starb dort 1980.

Es erhebt sich an dieser Stelle die Frage, inwieweit die Unterscheidung, ob Ehrhardt Post nun denn ein überzeugter Nationalsozialist der ersten Stunde oder nur ein konservativer Deutschnationaler war, von wirklicher Relevanz ist, angesichts der von ihm billigend in Kauf genommenen Vertreibung jüdischer Schachspieler aus der deutschen Schachszene, angesichts seiner Treffen mit Hans Frank dem Leiter des Generalgouvernements Polen und angesichts der Organisation von Schachturnieren in unmittelbarer Nähe der Konzentrationslager in Polen, in denen Menschen vernichtet und vielleicht gerade der bibliophile deutsche Jude Harald Falk aus Hamburg oder der polnische Jude David Przepiorka aus Lodz vergast wurden.

Der Autor ist der Überzeugung, daß es alleine schon deshalb kein nur formal wichtiger Aspekt ist, als mit der Klärung dieser Frage deutlich wird, welche Schuld auch gerade die deutschnationalen Ideen folgenden Deutschen auf sich geladen haben – in der großen politischen Welt, wie auch im kleinen Gebiet des Schachs. Vom gutmütigen Nationalismus romantischer Prägung zum rassistisch ausgrenzenden Nationalismus völkischer Prägung war es eben nur ein kleiner Rösselsprung, wenn die Sicherungen intellektueller Vernunft erst einmal gebrochen waren. Nicht nur die Juden in Deutschland und Europa, sondern auch die Jugend Deutschlands und Europas hat diesen Verlust an Vernunft mit dem Leben bezahlt; die Medizinstudenten Hans und Sophie Scholl aus Überzeugung für ihren Kampf gegen den Nationalsozialismus in München 1943 ebenso, wie die jungen und betrogenen deutschen Soldaten, die, wie der James Dean der deutschen Schach-Aficionados, Klaus Junge („denn sie wissen nicht, was sie tun“), noch in den letzten Wochen und Tagen vor dem Ende des Krieges im Mai 1945 ihr Leben geben mussten.

Stoltz vs Junge, Großmeisterturnier 1942

Ehrhardt Post starb am 1. August 1947. Die Nachricht über den Tod dieses einst so mächtigen Schachfunktionärs fand in der Schachpresse nur eine geringe Beachtung. Es ist nicht bekannt, wer Post wo und wie begraben hat.

Der Deutsche Schachbund aber muß sich in seinem 125. Jubiläumsjahr seiner Geschichte nicht schämen. Stolzen Hauptes kann er sich seiner Leistungen erinnern eingedenk der Worte: „Hüte dich nur und bewahre deine Seele wohl, dass du nicht vergessest der Geschichten, die deine Augen gesehen haben, und dass sie nicht aus deinem Herzen kommen all dein Leben lang.“